: Wieso bitte nie Athen?
Tief in jedem von uns schlummern sie: irrationale Abneigungen und Sehnsüchte nach völlig unbekannten Orten. Eine Reise dorthin lohnt sich allemal, und sei es auch nur, um die Träume und Fantasien zu erden
VON INA FREIWALD
Schon als Kind denkt sich Carmen Rohrbach in die Mongolei, malt sie sich als besten Platz der Erde aus. Später lernt sie reiten, tauchen und klettern – Überlebenstechniken für die ersehnte Expedition. Doch erst 29 Jahre später ist es so weit. Die promovierte Biologin und Reiseschriftstellerin („Mongolei – Zu Pferd durch das Land der Winde“) reist ans Ziel ihrer Träume. Zu Fuß und auf dem Rücken von Pferden und Kamelen, alleine und in Begleitung einiger Nomaden durchstreift sie die endlose Weite des Landes, erkundet die Wüste Gobi und das mongolische Meer, durchwandert das Atlasgebirge und besteigt den heiligen Berg Burchan Chaldun. „Ich musste mich davon überzeugen, ob meine Fantasie der Wirklichkeit standhält.“ Ein Jahr lebt sie in der Steppe. Sie schläft auf dem Boden der Jurten, in den Zelten der Nomaden, feiert mit ihnen das Naadam, ihr Stammesfest, und findet Seelenverwandte fürs Leben. „Die Mongolei ist Heimat für mich geworden“, sagt sie heute.
Fast jeder kennt sie, diese unerklärliche Neigung zu einer bestimmten Region, einem Land, einer Sprache. Augenfällig wird sie, wenn Eltern ihre Kinder Lasse, Ole und Inga nennen und jeden Sommer ein Haus in Schweden mieten. Wenn sich ein Abiturient ohne zwingende Gründe einen Job auf Island sucht, eine auf Rügen geborene Insulanerin seit der Pubertät nur mit Italienern ausgeht und schließlich „Moretti“ heißt oder ein HSV-Fan bei einem Spiel gegen Ajax Amsterdam bei einem Tor für die Gegenmannschaft plötzlich jubelnd die Arme hoch reißt.
„Wir alle haben Sehnsüchte, die wir in bestimmten Regionen ansiedeln“, sagt der Psychologe Michael Thiel. Länder, Landschaften und Kontinente bieten sogenannte „Schlüsselreize“: Mit Italien verbinden wir Sonnenwärme, Familienzusammenhalt, Optimismus, mit England Traditionen, trutzburgenhafte Landsitze, Beschaulichkeit. „In jedem Menschen finden sich Archetypen wie der Wunsch nach Geborgenheit oder der Drang nach Freiheit und Abenteuer. Wer seine ungestillten Hoffnungen in dem ihm fremden Land vermutet, glaubt, dass sein ganzes Ich dort ein besseres wäre.“
Ein Irrglaube, wie sich meistens zeigt. Als Corinne Hofmann vor einigen Jahren in ihrem Bestseller „Die weiße Massai“ ihre Heirat mit dem Samburu-Krieger Lketinga und ihren Alltag im kenianischen Busch schildert, wird sie von ihren Lesern nur fassungslos bestaunt. Wie kann sich eine Schweizer Geschäftsfrau mit Boutique in Bern auf einer Reise nach Afrika „blitzartig“ in einen kunterbunt bemalten Einheimischen in rotem Hüfttuch verlieben? Wie kommt sie dazu, ihre Beziehung, ihre Existenz abzubrechen und mit ihm in eine aus Ziegenkot und Kuhfellen gebaute Hütte zu ziehen? Und was treibt sie, mitten im Busch auch noch ein Kind aufziehen zu wollen? „Dieses Land hat mein Leben aus den Fugen gerissen“, schildert sie ihre ersten Gefühle. Und sie wusste von Anfang an: „Es wird nichts mehr so sein wie bisher.“ Nach dreieinhalb Jahren kehrt Corinne Hofmann in die Schweiz zurück. Lebensbedrohliche Krankheiten, die Sorge um ihre Tochter Napirai und ihr eifersüchtiger Ehemann bewegen sie zu dieser Vernunftentscheidung. Obwohl sie nach vierzehn Jahren erneut einige Wochen mit dem Vater ihrer Tochter verbringen wird, lautet ihr Fazit: „Auch wenn ich in einem früheren Leben eine Samburu gewesen sein mag, so bin ich doch im jetzigen in der Schweiz geboren und von unserer mitteleuropäischen Kultur geprägt. Dies ist wohl der Hauptgrund, warum Lketingas und meine Liebe nicht überdauern konnte.“ Tatsächlich glaubt nach einer Studie der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD) jeder vierte Deutsche, bereits schon einmal gelebt zu haben. Seit der Moderator, Komiker und Autor Hape Kerkeling in seinem Verkaufshit „Ich bin dann mal weg“ seine in Trance aufsteigende Vision einer früheren Existenz als Mönch in einem Breslauer Kloster schilderte, hat ein wahrer Ansturm auf Praxen mit diesbezüglichen Angeboten eingesetzt. Ursula Schmitz, Leiterin des Instituts für ganzheitliche Psychologie und psychotherapeutische Praxis in Stuttgart, kennt durch sechzehn Jahre Berufserfahrung die Anziehungskräfte fremder Länder. Doch sie kennt auch die Abstoßung, die Menschen beim bloßen Gedanken an eine Kultur empfinden können. „Ich selbst habe das vor langer Zeit mit Athen erlebt“, erinnert sie sich. „Ich wollte nie wirklich dort hin, musste aber auf einem Urlaubsflug dort einen Zwischenstopp von sechs Stunden einlegen.“ Merkwürdig war: Die fremde Stadt erschien ihr vertraut. „Ich kannte die Straßen, als hätte ich in ihnen früher schon einmal gelebt. Ich hatte keinerlei Orientierungsprobleme.“ Später im Flugzeug bricht sie in Tränen aus. „Bei meiner ersten Rückführung sah ich mich als Familienvater in einem Haus am Ortsrand von Athen. Eins meiner Kinder war sterbenskrank, und ich musste in die Stadt, Medikamente kaufen. Ich beeilte mich, so gut ich konnte, aber ich kam zu spät.“ Seit diesem Tag ist sie frei von guten wie schlechten Gedanken an die griechische Hauptstadt. „Durch meine Zeitreise habe ich mich der Erinnerung gestellt und die Ahnungen besiegt.“
So empfehlenswert diese Art von Zeitreisen sein mögen, spielen sie sich doch nur in unseren Köpfen ab. Die reale Reise an den Ort unserer Sehnsucht ist dagegen ein Erlebnis, das nahegeht. Nach Island, Kuba, Schottland oder direkt ins australische Outback, dem die Lüneburger Sozialtherapeutin und Systemische Familienberaterin Regina Müller einfach nicht widerstehen konnte. „Ich war zwölf, als mir meine Großmutter ein Buch über Australien schenkte. Sie drückte es mir mit den Worten in die Hand: ‚Damit du endlich weißt, worüber du immer sprichst.‘“ Schließlich gab es unter ihren Verwandten und Vorfahren schon eine ganze Reihe Auswanderer, Seefahrer, Weltreisende. „In meiner Familie scheint es ein Entdecker-Gen zu geben, das uns förmlich zwingt, neue Kontinente kennen zu lernen.“ Mit 21 hatte sie endlich das nötige Geld für ihr Flugticket und ihren Trip in die australische Wüste zusammen. „Es kam mir vor wie eine Reise ans andere Ende der Welt. Ich hatte keine Vorstellung, aber als ich an dem endlosen Highway durch die Sandschluchten stand, dachte ich nur: Ich gehöre hier irgendwie hin. Nie wieder habe ich mich so stark im Hier und Jetzt gefühlt.“ Viermal ist sie seitdem nach Australien gereist. Den Plan, dort zu leben, hatte die 37-Jährige allerdings nie. „Ich kann nur jedem empfehlen, die Landschaft, die ihn zieht und lockt, kennen zu lernen. Was dann bleibt, ist unendliche Ruhe und das Gefühl, ein zweites Zuhause zu haben.“