Wiedereröffnung der Volksbühne in Berlin: Schwankendes Schiff
Frank Castorf inszeniert zur Wiedereröffnung seiner Spielstätte in Berlin ein Nachrevolutionsstück Friedrich von Gagerns - und vertut die Chance, sein Haus intellektuell zu erneuern.
Seit 17 Jahren ist Frank Castorf der uneingeschränkte Herrscher an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin. Die Bühne galt in den 1990er-Jahren als der Ort schlechthin im deutschen Theater. Niedrige Eintrittspreise, ein urbanes, junges Publikum, hervorragende Auslastung und unkonventionelles Theater von im Werden begriffener Größen wie Christoph Marthaler, Christoph Schlingensief oder eben des Meisters Frank Castorf selbst. Der Ostdeutsche scherte sich nicht um westbürgerliche Hochkulturkonventionen, revolutionierte für sein postdramatisches Theater Video- und Bühnentechnik, zertrümmerte, was das Zeug hielt, und hatte keine Berührungsängste gegenüber populärkulturellen oder aktivistischen Szenen. Die Volksbühne war in den 1990er-Jahren ein Ansaugstutzen für viele Kulturentwickler. Und geriet dann zunehmend und im neuen Jahrtausend in eine Krise.
Woran das liegt? Darüber wurde viel geschrieben. Die Autokratie des Intendanten, der Provinzialismus des Ostens, eine unglückliche Personalpolitik? In Interviews zum Relaunch seiner Bühne gab sich "Cool Castorf" - so der Titel einer Kölner Musikzeitung Ende der 1990er - jetzt betont bescheiden und selbstkritisch. Die Formen, für die die ostwestliche Volksbühne einmal solitär stand, hätten sich vervielfätigt, über die ganze Stadt und ihre kulturellen Räume ausgebreitet. Man habe es schwer. "Früher war die Volksbühne eine einsame Insel, heute ist hier alles voll mit Labels und Galerien und schicken Restaurants", sagt einer, der sich nun mit seinem gereiften Stammpersonal und einem Auswandererstück des weitgehend unbekannten Schriftstellers Friedrich von Gagern Luft zu verschaffen sucht.
Friedrich von Gagerns Textvorlage "Ozean" bietet vieles, was sich mit Castorfschen Theater verbindet: Revolutionshoffnung, Existenzialismus, Ausnahmesituation, Betrug, Aufstand, Liebe und derbe Volkstümlichkeit. Nach der gescheiterten Revolution von 1848/49 befinden sich frühere Barrikadenkämpfer, Theoretiker, einfache Arbeiter und Huren auf der Überfahrt ins mythisch überhöhte Amerika. Sie bevölkern das Zwischendeck, einen stickigen Ort, der weniger Glanz verspricht als die vermeintliche Goldküste im fernen Kalifornien. Der Kapitän ist ein Betrüger, Hunger und Willkür sind an der Tagesordnung, die Meuterei ist nicht fern. "Der Igel frisst Schlangen; ein sehr nützliches Tier: Vom Gifte sind ihm gegen das Gift die Stacheln gewachsen", kalauert "ein unbekannter" Passagier in Gagerns Vorlage, an diesem Abend von Volksschauspieler Volker Spengler vielfach variiert.
Dieser Text ist Teil der aktuellen sonntaz vom 14./15. November - ab Sonnabend zusammen mit der taz am Kiosk erhältlich.
Castorf hat Gagern zunächst sehr nüchtern, fast schon hyperrealistisch interpretiert. Im ersten Teil der Inszenierung hat der über vierstündige Theaterabend wie die Vorlage auch einige große Momente. Das Ensemble lagert auf Holzpaletten und Seesäcken auf der Bühne (auf Säcken auch das Publikum, die Sitzreihen wurden abmontiert). Drei der Auswanderer - die Schauspieler Max Hopp, Michael Schweighöfer und Axel Wandtke - disputieren vor dem Hintergrund der niedergeschlagenen 1848/49er Revolution. Das hat noch Sinn und auch Humor.
Doch wie bei Gagern selbst segelt dieses Auswandererstück auch bei Castorf nach dem Prolog in eine immer größere geistige Windstille. Längliche Monologe über Gott und die Welt, blanke Esoterik. "Ozean" ist ein wirres Stück von 1921, geprägt auch davon, dass es noch kein Fernsehen gab und das Theater eine grundlegend andere Bedeutung besaß. Heute hat man an eine vierstündige Soap andere Ansprüche an Unterhaltung, Witz und Schärfe, als sie Castorf zumutet.
Sehr schade: So hat der frühere Meister auch nach der monatelangen Umbaupause die Chance vertan, sich und sein Haus von der intellektuellen Stagnation zu befreien. Er sucht lieber Zuflucht im Identitären, stärkt Ostrock statt Pop, obwohl sich noch ein vereinsamter Pam-Grier-Song in dieses Spiel verirrt. Die Inszenierung trägt teilweise folkloristische Züge und ist auch in ihrer Deutsch- und Selbstbezüglichkeit eher etwas für Masochisten.
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