Wiederaufnahme: Die Opfer sind die Angeklagten
Das Landgericht Lüneburg spricht zwei Männer frei, die wegen Vergewaltigung lange in Haft waren. Die Glaubwürdigkeit des Opfers sei zweifelhaft.
Karl-Heinz W. hat eine Ahnung, wie die Verhandlung für ihn heute ausgehen wird, doch wirkt er alles andere als sicher. Unruhig wippt er mit den Füßen, fährt sich mit den Händen übers Gesicht und lächelt ängstlich in die Runde. Sein Mitangeklagter Ralf W. ist sichtlich entspannter. Zurückgelehnt unterhält er sich mit seinem Verteidiger.
2004 waren die beiden Männer vom Landgericht Hannover zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt worden. Karl-Heinz W.s Tochter Jennifer hatte sie der mehrfachen Vergewaltigung beschuldigt. Karl-Heinz W. hat seine vierjährige Strafe vollständig abgesessen, Ralf W. wurde im Herbst nach fast fünf Jahren Haft wegen massiver Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Nebenklägerin Jennifer W. freigelassen.
Nun ist der Fall vom Landgericht Lüneburg in einem Wiederaufnahmeverfahren neu aufgerollt worden, unabhängige Gutachter haben noch einmal alle Unterlagen durchgearbeitet, nachdem wiederholt Zweifel an der Glaubwürdigkeit Jennifer W.s auftauchten.
"Ein solches Verfahren ist ein wahrer Exot vor Gericht", sagt Richter Axel Knaack. Doch der lange rote Faden der Glaubwürdigkeitszweifeleien an den Aussagen des vermeintlichen Opfers habe das Gericht schließlich zu einer Wiederaufnahme veranlasst. Zuletzt hatte Jennifer W. dem Gericht ein ärztliches Attest vorgelegt, in dem sie sich bestätigen ließ, dass ihr ein Krebstumor entfernt wurde. Die Nachfrage bei der angegebenen Ärztin ergab, dass es sich dabei um eine Fälschung handelte.
Die unabhängigen Gutachter sehen sich dadurch in ihrer These bestätigt, Jennifer W. leide unter dem Borderline-Syndrom und erfinde Geschichten, um Aufmerksamkeit zu erfahren. Ihre Aussage aus dem Jahr 2004, sie sei im Alter von acht Jahren Opfer eines Mädchenhändlerrings gewesen konnte ebenfalls nicht bestätigt werden.
Der gestrige letzte Verhandlungstag bringt einen Freispruch und Entschädigungszahlungen für beide Angeklagte. Richter Knaack schließt sich den Plädoyers des Staatsanwalts und der Verteidigung an. "Aus heutiger Sicht hätte es nie zu einer Verurteilung kommen dürfen - eigentlich noch nicht einmal zu einer Anklage", sagt er. Nach Ansicht von Verteidiger Johann Schwenn sei der mittlerweile 25-jährigen Jennifer jedoch nicht alle Schuld zuzuschreiben. Vielmehr habe die Staatsanwaltschaft Hannover eine peinliche Fehlentscheidung getroffen. Jennifer sei durch die "suggestive Befragung" in einer Beratungsstelle in ihren Aussagen immer weiter vorangetrieben worden. "Sie war das Opfer, ihr wurde alles geglaubt", sagt Schwenn. Ihre psychische Störung sei außer Acht gelassen, als posttraumatische Reaktion abgetan worden. Schwenn fordert ein rechtliches Vorgehen gegen die Hannoversche Staatsanwaltschaft. Belastende Tatsachen gegen das vermeintliche Opfer seien verschwiegen worden.
Karl-Heinz und Ralf W. haben einige Jahre unschuldig hinter Gittern verbracht - der Resozialisierungsprozess ist nicht abgeschlossen, hat nicht einmal richtig angefangen. Ralf W. ist seit der Haft arbeitsunfähig, lebt von Hartz IV. Vielleicht helfen ihm die Entschädigungszahlungen, die voraussichtlich in siebenstelliger Höhe liegen werden.
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