Wie sich die Einwohner Tokios verhalten: Technologieglaube schlägt Zweifel
Wegen der täglichen Nachbeben ist die Naturkatastrophe im Bewusstsein der Menschen in Tokio präsenter als die Strahlenbelastung. Doch die steigt dramatisch.
TOKIO taz | Es ist nie leicht gewesen, in Japan Atomkraftgegner zu sein. Man durfte sich stets zu einer verschwindend kleinen Minderheit zählen. Aber dieser Tage fällt es noch schwerer. Die Mannschaft von Japans führendem Anti-AKW-Zentrum CNIC (Citizens Nuclear Information Center) ist vollkommen überlastet.
Aber nicht nur das. Die emsigen Mitarbeiter des Zentrums, ein jeder Experte für ein Spezialgebiet der Atomwissenschaft, spüren, dass sich ihre Welt trotz der drohenden Katastrophe immer noch um die eigene Achse dreht. Zwar geben sie jetzt Interviews für CNN und BBC. Zwar hielten sie in den letzten Tagen zwei eilig einberufene Pressekonferenzen im Club der Auslandskorrespondenten in Tokio ab. Aber die japanische Öffentlichkeit hört ihnen immer noch nicht zu.
Das Büro des CNIC liegt gleich neben dem Verteidigungsministerium im Herzen von Tokio. Von überall in der Stadt schnell und gut zu erreichen. Die Räume der AKW-Kritiker befinden sich im ersten Stock eines modernen Apartmenthauses. Hier findet seit Samstag jeden Abend eine Pressekonferenz statt. Doch wer etwas verspätet dazustößt, denkt nicht, dass er schon viel versäumt haben könnte.
Da stehen ordentlich vor der Türschwelle zwei Dutzend Schuhpaare aufgereiht. Alles ist ruhig. Als würde hier eine Seminarveranstaltung stattfinden. Drinnen hocken neben dem Dutzend CNIC-Mitarbeitern gerade mal ein Dutzend Journalisten auf Klappstühlen. Keine einzige Fernsehkamera. Keine Blitzlichter.
Masashi Goto
Dabei sitzt vorne, vor einem kleinen Tisch mit Projektor, der Mann, der wohl besser als jeder andere in Japan und der Welt in diesen Tagen die spärlichen Informationen aus Fukushima deuten kann. Er heißt Masashi Goto und war lange Jahre als Atomingenieur bei Toshiba tätig. Zuständig für die Sicherheitsvorkehrungen der Atomreaktoren. Er arbeitete als junger Mann schon beim Bau der Atomkraftwerke in Fukushima mit. Er weiß, wo dort ein Stein auf dem anderen liegt. Und er hat sich erst jetzt, unter dem Druck der Ereignisse, als AKW-Gegner geoutet.
Zuvor arbeitete er jahrelang inkognito im CNIC mit. Eigentlich ist dieser Mann jetzt ein gefundenes Fressen für jeden Journalisten. Doch außer ein paar freien Journalisten, die für Spezialseiten im Internet berichten, sind nur ein paar junge Schreiber der vier großen japanischen Tageszeitungen gekommen. Sie nehmen ohne Nachfragen in ihre Laptops auf, was Goto erzählt. Vermutlich wird allenfalls ein Satz davon am nächsten Tag den Weg in die Zeitung finden.
Dabei wird die Lage mit jeder neuen Explosion in Fukushima immer unübersichtlicher. Goto kann das alles auseinanderhalten und beispielsweise auf die am gestrigen Tag neu ins Bewusstsein gerückte Gefahr der verbrauchten, am Unfallort abgelagerten Atombrennstäbe deuten. Diese Brennstäbe umgibt keine Reaktorhülle. Wenn sie brennen, und das war nach Gotos Meinung am Dienstagmorgen der Fall, ist die Wahrscheinlichkeit, dass große Mengen Radioaktivität freiwerden, besonders hoch.
So erklärt Goto dann auch die hohen Strahlungswerte, die in Fukushima am Morgen gemessen wurden. Er empfiehlt jetzt weitere Vorsichtsmaßnahmen: vor allem das Austeilen von Jodtabletten an die breite Bevölkerung. Aber auch einen größeren Evakuierungsradius um die Unfallstätte. Wären das nicht Schlagzeilen für den nächsten Morgen?
Keine Panikreaktionen
Aber die Japaner wollen sie nicht lesen. Sie wollen ihren Glauben an die japanische Technologie nicht verlieren. Sie wollen, auch jetzt noch, festhalten an ihrem Traum von der Energieunabhängigkeit durch Atomkraft. Das spürt man im Gespräch mit den Journalisten, von denen man sich wünschte, dass sie sich einmal die Zeit nähmen, im CNIC vorbeizuschauen.
Man trifft sie im "Kantei", dem Amtssitz des Premierministers. Hier sind alle japanischen Medien mit ihren besten Leuten vertreten. Doch fragt man sie nach den Folgen des Atomunfalls, sprechen sie von japanischer Parteipolitik und wie sich der vor Erdbeben und Tsunami schwächelnde Premierminister Naoto Kan die Katastrophe zunutze machen könnte.
Energiepolitisch aber könne sich in Japan nichts ändern, sagen sie. Dazu seien China und Russland zu gefährlich und kämen als zuverlässige Öl- oder Gaslieferanten nicht in Frage. Es gibt kaum Zweifel, dass in etwa so auch am vierten Tag des schwelenden Atomunglücks in Fukushima die große Mehrheit der Japaner denkt.
Doch das schließt nicht aus, dass die Leute sehr bewusst auf die Krise reagieren. In Tokio ist an diesem Dienstag schon nichts mehr so wie immer. Es fahren nur noch wenige Autos. Am Abend gehen überall die Lichter aus. Die Regierung hat zum Energiesparen aufgerufen, und die Bürger nehmen das sehr ernst. Viele befolgen den Rat des Premierministers, wenn möglich zu Hause zu bleiben.
In den Tokioter Lebensmittelläden sind längst die Regale leer geräumt. Doch darf man darin keine Panikreaktion aus Angst vor der drohenden Atomkatastrophe sehen. Die Japaner sind es gewohnt, nach Erdbeben so zu reagieren. Jedes Mal gibt es dann die Gefahr von Nachbeben. Am Dienstagabend wird sie noch einmal bestätigt, als um 22.30 Uhr erneut für lange Minuten die Erde wackelt.
Die japanische Angstlosigkeit und der überall spürbare Unwille, die sich abzeichnende Katastrophe zu Ende zu denken, aber haben in diesen Tagen auch große Vorteile. Sie verhindern Aufregung, Streit und im Extremfall denkbare Gewaltausbrüche. Am Abend bespricht eine junge Web-Designerin mit ihrem Freund in einem Tokioter Café die Lage. Sie machen sich nicht allzu viele Sorgen, aber vor einem fürchten sie sich ganz bestimmt nicht: vor einer öffentlichen Panik. "Das gibt es bei uns nicht. Wenn einer panisch reagiert, wird er von den anderen zur Ruhe gebracht", ist sich das Paar sicher.
Gemeinsamer Krisenstab von Regierung und Betreibern
Die Regierung kann sich auch deshalb auf das Krisenmanagement in Fukushima konzentrieren. Es sieht auch so aus, als nähme sie an diesem Dienstag den AKW-Betreibern das Heft aus der Hand. Premierminister Naoto Kan hatte offenbar einen Wutausbruch, als er am Dienstagmorgen das Tokioter Hauptquartier der AKW-Betreiber von Fukushima besuchte. Daraufhin lässt er einen gemeinsamen Krisenstab von Regierung und Betreibern einrichten, in dem nun die Politik das Sagen haben soll. Sein technologiegläubiges Volk wird das nicht gerade beruhigen.
Doch die Regierung Kan erweckt jetzt manchmal den Eindruck, als denke sie weiter als ihre Wähler. In ihr arbeiten heute viele ehemalige Linksaktivisten, die sich zwar in den letzten Jahren dem politischen Alltagsgeschäft in Japan angepasst haben, aber in der Krise möglicherweise doch auf andere Gedanken kommen. Kan ist einer von ihnen, ebenso Wirtschafts- und Industrieminister Banri Kaieda, der für die AKWs zuständig ist. Vielleicht kommt zumindest bei ihnen die Botschaft der japanischen AKW-Gegner an. Kan ist ein alter Bekannter des CNIC.
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