Wie die Türkei schmeckt: Mit jedem Gericht woanders hin
Die türkische Küche ist ein Mix aus verschiedenen Esskulturen. Unser Autor hat sie in einem Fischerdorf an der Ägäis für sich entdeckt.
Da waren sie. Da lagen sie. Da schlabberten sie an allen Ecken und Enden, grunzend, mit glücklichen Augen und genüsslichem Summen in der Kehle. Manche kamen näher ran, und als da noch zufällig eine Feige aus dem Auto fiel, kamen sie noch näher, und wenn ich es drauf angelegt und die Pfirsiche ausgepackt hätte, wären sie bestimmt auch ins Auto hineingekrochen.
Den Wildschweinen in der Türkei geht es prächtig, denn a) sind ihnen Türkinnen und Türken in der Regel keine natürlichen Fressfeinde, und b) sagt man ja: Du bist, was du isst, was bedeutet, dass diese fetten, zutraulichen Viecher aus Lahmacun, Pide, Iskender, Joghurt, Lammfleisch, Zitronen, süßen Feigen, Pfirsichen, Melonen und Olivenöl bestehen. Hätten sie nicht gerade den Müll durchforstet, hätte das in mir den Wunsch ausgelöst, mich neben sie zu legen und mitzufuttern. Aber daraus wurde nichts, so tafelten sie zufrieden vor sich hin.
Mein Freund Timur will wissen, ob ich betrübt sei, denn ich hätte so einen wehmütigen Glanz in meinen Augen. Ich schweige und denke darüber nach. Irgendwann habe ich mir für meine Reisen und Urlaube mal vorgenommen, mir nichts mehr vorzunehmen. Das hat mehrere Vorteile: a) hat man kein schlechtes Gewissen, weil man nicht alles geschafft hat, und b) desto weniger ich selbst wähle, welchen Weg ich einschlage, desto eher gelange ich zu den unvergesslichen Geschichten, die sich ins Gehirn einbrennen und die man schlussendlich gerne erzählt.
Bisher gab es allerdings wenig Gelegenheit, sich irgendwelchen Wegen zu fügen. Denn das Wetter war scheiße und zwei Tage lang gab es Regen, Regen, Regen. Wir saßen also in Güllük, einem Fischerdorf an der Ägäis in der Nähe von Bodrum, auf unserem marmorgefliesten Balkon und schauten, ohne einen Laut der Klage, in die Mittelmeerbucht, die da vor uns lag wie ein Sinnbild unendlichen Friedens.
Zum „kahvaltı“ Menemen
Manchmal, als doch die Sonne rauskam, tanzten Schwalben vor unseren Gesichtern, abends zirpten die Grillen, und im schummrigen Kerzenlicht zeichneten sich nur noch Umrisse ab. Und irgendwann war es so leise, dass die Stille irgendwie schon Musik geworden war, bis der Muezzin am Morgen sein Gebet sprach und uns der Raki ausging. Zugegeben: Der Ort an sich lieferte schon genug Inspiration.
Wieso dann überhaupt rausgehen? Nun, weil’s a) so schön, wie es auch ist, auf Dauer langweilig wird, den ganzen Tag zu Hause rumzuhängen und in Kontemplation zu versinken, und weil wir b) die Rechnung ohne unsere Mägen gemacht hatten und es ständig aus der Körpermitte herausrief.
Zum Frühstück, „kahvaltı“ heißt es in der Türkei, gab es Joghurt, angerichtet mit Olivenöl, Petersilie und Zitronensaft, Tomaten, Gurken, türkischer Gewürzpaprika, auch Sivri genannt, und einem Weißbrot, das außer Kohlenhydraten für uns nichts bereithielt, hier aber irgendwie dazugehörte. Oliven standen den ganzen Tag auf unserem Tisch, zum Zwischendurchsnacken, genauso wie Pastirma, luftgetrocknetes, gewürztes Rindfleisch, fast so dünn geschnitten wie Schwarzwälder Schinken. Oder Menemen, ein türkisches Eiergericht mit Paprikapulver, Sivri, Knoblauch, Tomaten, Petersilie, Zwiebeln; und Timur hat auch noch türkische Knoblauchwurst drangemacht, Sucuk.
Mittags bei den Straßenhändlern und an den Tankstellen: Balik ekmek, ein Fischsandwich mit Tomaten und etwas Essig. Das gilt als Armeleuteessen. Ebenso wie Köfte oder Manti, kleine gefüllte Teigtaschen, mit mürbem Lammfleisch und Joghurt, dazu eine süßliche Tomatensoße mit Säure, die vom Gewürz Sumach kommt, und etwas Chiliöl für die Schärfe. Manti bekommt man hier üblicherweise in den kleinen Küchen in den Seitengassen, da wo die Familie hinterm Herd steht und Englisch weder spricht noch versteht.
Die Wildschweine hatten ihr Glück gefunden
In Bodrum gab es all das, was die Wildschweine schon verputzt haben. Außerdem Corbasi, eine Suppe mit Lammfleisch und Joghurt. Mindestens ein halbes Jahr würden uns alle Krankheiten fernbleiben, wenn wir die Suppe essen, versprach uns Sakalli Baba, so stellte er sich uns vor. Der stoppelbärtige Papa. Die Türkei verbindet seit jeher verschiedenen Kulturen. Das war unser Glück, denn jedes Gericht, das wir aßen, brachte uns wieder woanders hin. In die jüdische Küche, die indische, die russische, auf den Balkan oder nach Armenien. Das war a) kulturelle Aneignung im besten Sinne, und b) affengeil.
Woher also der wehmütige Glanz von dem Timur sprach? Als ich so den Wildschweinen zusah, wusste ich, dass sie ihr Glück gefunden hatten. Mehr brauchten sie nicht als den Müll und die Essensreste. Ich dagegen stellte mir die Frage: Habe ich wirklich erfahren, wie die Türkei schmeckt? Es ist ja nicht damit getan, dass man sich mit dem leckeren Kram vollstopft, den das Land zu bieten hat. Wo wurde der Erzählstrang meiner alltäglichen Routine unterbrochen? Wonach ich mich sehnte, das war der Blick hinter die Kulissen. Den Blick, den man nicht erzwingen oder herbeischmeicheln kann, für den man nicht zahlen kann und den man schon gar nicht findet, wenn man ihn sucht. Ich war vollgefressen, aber noch nicht satt.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Es war zwei Tage vor dem Rückflug als wir in der Nähe eines Kiosks saßen. Ich rauchte, nippte an meinem Raki und wartete auf meine Seele, die meinem betrunkenen Ich manchmal etwas hinterhertrottet; dann nämlich, wenn Inspiration und Antrieb fernbleiben. Da spielte sich folgende Szene ab: Ein Besoffener holt sich zwei Bier aus dem Kühlschrank. Der Besitzer meckert ihn an, als sei er sein Sohn. „Du weißt doch, dass du das nicht einfach so darfst“, übersetzt Timur. Das Alkoholverbot nach zehn Uhr abends, die Jandarma, die es durchsetzt. Er würde es ihm selbst rausholen, sagt er, lässt Taten folgen und steckt das Bier in eine undurchsichtige Tüte.
Bester Stil bei billigster Machart
Plötzlich wird es laut. Menschen strömen an uns vorbei. Rhythmen vom Tambourin und von der Darbuka, Neun-Achtel-Rhythmen, die sich selbst ständig wieder brechen und aus dem Konzept zu bringen scheinen. Überraschende Wendungen! Musik! Eine Atmosphäre, die uns mitzieht, die uns antreibt.
Es zog eine türkische Hochzeit vorbei. Hunderte Menschen, und sie hatten sich mächtig in Schale geworfen. Bester Stil bei billigster Machart. Hinter uns prügelten sich ein paar Hochzeitsgäste, sodass die Jandarma anrückte. Vor uns tanzten sie, als ob es kein Gestern und kein Morgen gäbe. Der Brautbruder zog uns dazu. Es glitzerte der Schmuck, es schossen Flammen und Feuerwerk in die Luft. Für die Kinder gab es Bonbons. Sie versanken im Glück. Sie erzählten uns lächelnd Geschichten, ich verstand kein Wort.
Aber wer braucht das schon, wenn man sich auch wortlos versteht? Nachdem die Jandarma geschlichtet hatte, feierten sie mit uns und der Hochzeitsgesellschaft. Es war eine Zeremonie von reinster Herzenskraft. Es klangen leichte Lieder und fröhliche Lieder. Die Seele der Stadt. Sie tanzt mit den Händen und den Fingern und der Hüfte und den Schultern. Und ich war mittendrin. Und war endlich satt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!