Wettbewerb der Berlinale: Was man zu sehen genötigt wird
Bombe für Bombe: „Irradiés“ ist der gewaltvolle Film eines Überlebenden, der die Betrachter*innen zu Überlebenden macht. Darf er das?
„Irradiés“ ist ein Klagegesang auf die Menschheit. Das Pochen und Sägen der Streicher will auf der Tonspur nicht enden. Oder doch, ein einziges Mal, Leichen werden in Massengräber geräumt, ein einziges Mal gibt es Schweigen. „Irradiés“ ist ein Film, dem man nach einer ersten Sichtung und in 3.000 Zeichen nicht gerecht werden kann.
Ein Film, über den ein Urteil zu fällen beinahe unmöglich ist, ein Film, der von Verstrahlung berichtet, von Zerstörung, von Tod und Mord und Folter und dem Schlachten von Menschen durch Menschen.
Der Film nimmt in Hiroshima seinen Ausgang, ist aber weit davon entfernt, sich auf die Atombombe zu beschränken. In den ersten Bildern beobachtet man eine Hand, die eine Art Puppenhaus baut, darin wird ein Foto platziert: ein Familienbild, über das man nichts Konkretes erfährt, wie man im ganzen Film über das, was man sieht, sehen muss, zu sehen genötigt wird, nichts Konkretes erfährt.
Der Film ist ein zermalmender Ansturm der Bilder, die kein Auslassen, keine Pietät, kein Wegschauen kennen und alle Zeigetabus im Handstreich zertrümmern. Die Verstrahlung ist Bild für Bild, Leiche für Leiche, Bombe für Bombe, Schädel für Schädel konkret.
28. 2., 16 Uhr, Berlinale Palast;
29. 2., 10 Uhr, Friedrichstadt-Palast;
29. 2., 16.15 Uhr, Haus der Berliner Festspiele;
1. 3., 15.15 Uhr, Haus der Berliner Festspiele
Die Frage ist, was passiert, wenn das konkrete Bild an Bild und Schädelstätte an Schädelstätte gereiht wird: Wird das Einzigartige nicht, gegen die Intentionen des Regisseurs Rithy Panh, der als Junge die Terrorherrschaft der Roten Khmer in Kambodscha überlebte, so allgemein und abstrakt, wie er es für das maschinelle Töten behauptet?
Hiroshima, Hanoi, die Todeslager S-21 und Auschwitz
Das Bildfeld von „Irradiés“ ist dreigeteilt. Mal sieht man dreimal dasselbe, mal gehen die Bildfelder ineinander über, als wären sie eins, mal stehen zwei oder drei Bilder in gespannter oder bestätigender Beziehung zueinander. Fast alles ist found footage, gefundene Bilder, als Beleg, konkret und abstrakt, für die Verstrahlung der Welt neben die anderen Bilder platziert: Hiroshima und Hanoi, die Todeslager S-21 und Auschwitz – das sind nicht Belege für eine These, sondern, eines unerbittlich auf das andere folgend, Attacken auf den Betrachter. Auf der Tonspur sagt André Wilms: „Man darf nicht friedlich filmen.“
Der Ansturm lässt nach. Andere Bilder mischen sich zwischen das vervielfältigte Grauen. Ein Buto-Tänzer (Bion) in weißer Kreide und/oder Latex, schwarze Höhlen die Augenpartie. Fortsetzung des Klagegesangs mit den Mitteln des Tanzes, aber auch eine Beruhigung, ein Aufbruch zum Frieden. Die Bilder, der Film und wir gelangen in ein Jenseits des Schreckens.
„Irradiés“ ist der Film eines Überlebenden, der die Betrachter*innen zu Überlebenden macht. Es ist ein vielfach beglaubigter, ein erschütternder Akt. Es ist aber auch eine obszöne, des Kitschs in Bild, Musik, Text keineswegs entratende Gewalttätigkeit. Wie das ästhetisch und ethisch angehen kann, darüber muss gesprochen werden.
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