Westafrika: Verlierer und Kämpfer
In Nigeria sorgt man sich nicht um das Wohlergehen der Flüchtlinge. Sondern um das von Deutschland
Katrin Gänsleraus Kaduna
Es ist ein tiefer Seufzer: „Die Arme! Wie soll sie das nur schaffen?“ Ein Freund und Kollege, der in der nordnigerianischen Stadt Kaduna lebt, ist ernsthaft besorgt. Doch es geht ihm nicht um eine Bekannte, die vielleicht gerade ihren Mann verloren hat, oder eine der neuen Ministerinnen, die sich künftig in Nigeria gegen unzählige Männer durchsetzen müssen. Er sorgt sich um die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel. Sie müsse sich schließlich künftig um rund eine Million Flüchtlinge kümmern, die Deutschland 2015 aufgenommen hat.
„Wie soll sie das nur schaffen. Das wird doch euer Land ruinieren“, sagt er und schüttelt fast abfällig den Kopf. Mit anderen Worten: Wie kann ein Land wie Deutschland, das sich viel aufgebaut hat, nun alles hinschmeißen? Ist Deutschland denn von allen guten Geistern verlassen?
Dieses Unverständnis ist momentan häufig in Nigeria zu hören. Als beispielsweise Mitte April in nur einer Woche mehr als 1.000 Menschen im Mittelmeer ertranken, interessierte das kaum jemanden. Die Schiffskatastrophen werden zwar durchaus wahrgenommen, sorgen aber zumindest in Nigeria nicht für Gesprächsstoff. Hier gelten all jene, die über Land gen Norden aufbrechen, als Verlierer, auf die man ganz gut verzichten kann. Mitleid? Fehlanzeige. Wer auf der Gewinnerseite steht, hat nämlich ein Jahresvisum für Großbritannien oder die USA im Reisepass und fliegt selbstverständlich.
In Nigeria kann sich auch niemand vorstellen, dass eine Bevölkerung schrumpfen kann. Gesicherte Zahlen gibt es nicht, aber Afrikas Riesenstaat wächst jährlich vermutlich um mindestens fünf Millionen Einwohner – ähnlich groß sind die Wachstumsraten in der gesamten Region. Dass gerade Deutschland Zuwanderung dringend braucht, stößt auf Verwunderung.
Europa: Was für ein Jahr: In Griechenland spielte ein monatelanger Krimi um die neue Linksregierung, Währungskrise und Verhandlungen mit der Troika. Paris musste zwei islamistische Terroranschläge erleben. Und vor allem beschäftigten uns Menschen, die von jenseits des Mittelmeers nach Europa kommen. Der Umgang mit dieser „Flüchtlingskrise“ entzweite auch die Mitglieder der EU.
Sichtweise: Wie schaute die Welt auf Europa in diesem Krisenjahr? Wir haben die taz-Auslandskorrespondenten in China, Russland, Südamerika, den USA und Westafrika gebeten, mit der Brille ihres Berichtsgebiets auf 2015 zurückzublicken. Welches Bild wurde dort von Europa gezeichnet? Welche Nachrichten spielten eine besondere Rolle, welche gar keine? Was bewegte die Menschen?
Aber es ist noch etwas, was die Leute hier besorgt: Es sind ausgerechnet Muslime, die Deutschland aufnimmt. In einem Land wie Nigeria, in dem es in den vergangenen Jahrzehnten regelmäßig zu religiösen Ausschreitungen kam und Religion identitätsstiftend ist, herrscht zumindest bei Christen Unbehagen darüber. Mit der Flüchtlingswelle könnten schließlich auch Kämpfer des „Islamischen Staates“ nach Deutschland gespült werden.
So sind auch die jüngsten Terroranschläge von Paris sehr genau beobachtet worden, in den einstigen französischen Kolonien Westafrikas noch mehr als in Nigeria. Hier hat aber auch Femi Ehinmidu die Attentate und anschließende Debatte genau verfolgt. Er ist der Vorsitzende der Pfingstkirchen im Bundesstaat Kaduna. Vermutlich möchte er nicht schadenfroh klingen. Doch auf eine Frage nach der Miliz Boko Haram hört es sich fast so an. „Terrorismus ist doch kein nigerianisches Problem. Schaut euch doch an, was gerade in Frankreich passiert ist.“ Endlich, so hört er sich an, kann man nicht mehr nur Nigeria vorwerfen, nicht genug gegen den islamistischen Terrorismus zu unternehmen.
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