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Wer will in die Hauptstadt?

Wird Berlin unattraktiver? Der Zuzug jüngerer Menschen hat nachgelassen. Für wehrdienstfähige Männer gibt es keinen Grund mehr zu kommen  ■ Von Tobias Rapp

Wer in Frankreich etwas werden will, zieht nach Paris. Wer in Großbritannien etwas erleben will, geht nach London. Und in Deutschland, wohin gehen junge Deutsche, die dem Dunstkreis ihrer Eltern entkommen wollen? In die Hauptstadt?

Für Michael Schulthaupt stand nach dem Zivildienst fest: „Wenn Deutschland, dann Berlin.“ Michael ist 22 Jahre alt und seit sechs Monaten in der Stadt. „Irgendwie“ studiert er Architektur, hauptsächlich treibt er sich jedoch in den Techno-Clubs im ehemaligen Osten herum.

„Berlin ist billig und lebendig“, faßt er seine Sicht auf das Großstadtleben zusammen. Eine andere deutsche Stadt wäre für ihn nicht in Frage gekommen. Michael gehört zu den jungen Leuten, die dem Ruf Berlins als Party-Metropole gefolgt sind.

Von der APO in den Sechzigern bis zu den Hausbesetzungen in den Achtzigern übte Berlin eine besondere Anziehungskraft aus. An der Freien Universität zu studieren bedeutete mehr, als nur einen Abschluß anzustreben, oft machte allein das Kürzel FU die Nennung des Studienortes unnötig.

Denn neben dem Studium tobten hier die interessanten Debatten, die auch an die anderen Universitäten strahlten. Und auch der Häuserkampf in den Achtzigern hatte die gewisse Note, die die fehlende Möglichkeit, ins Grüne fahren zu können, mehr als aufwog. Kreuzberg bedeutete immer mehr als nur „Szeneviertel“.

In den Neunzigern scheint sich dies fortzusetzen. Die „Clubs in Mitte“ oder die „Prenzlauer-Berg- Szene“ üben auf junge Leute scheinbar immer noch eine Anziehungskraft aus, die Ofenheizung und Außenklo als Zeichen von Urbanität begehrenswert machen: „Es ist immer noch besser, tonnenweise Kohlen in die Wohnung zu schleppen, als sich in Bielefeld gemütlich zu langweilen“, sagt Michael.

Doch die Zahlen sprechen eine andere Sprache. Laut dem Statistischen Landesamt zogen im Jahr 1995 24.911 junge Leute zwischen 18 und 25 Jahren in das vereinte Berlin. Das sind etwa genauso viele, wie sich 1985 allein in der westlichen Stadthälfte niederließen, als es dort 24.810 Zuwanderer gab. Die Zahl der jungen Neuberliner aus dem Ausland ist dabei gleich geblieben, sie beträgt ungefähr die Hälfte.

Bei den deutschen Neuankömmlingen verschoben sich die Zahlen allerdings deutlich: War 1985 die Hälfte der Zugezogenen aus Westdeutschland, sind es zehn Jahre später nur noch ein Viertel. Genauso viele junge Leute wie aus dem Westen kommen 1995 aus der ehemaligen DDR. Berlin scheint also trotz Mauerfall und Love Parade an Anziehungskraft verloren zu haben.

In Westdeutschland die Zelte abzubrechen und nach Charlottenburg, Schöneberg oder Kreuzberg zu ziehen war mehr als eine Frage des Lifestyles. Für viele war es eine Gewissensentscheidung, zumal es eine andere Entscheidung überflüssig machte. Denn die Frage nach Militär oder Zivildienst stellte sich für junge Leute, die nach Berlin gingen, nicht. Ein Umzug in die Viermächte-Stadt bot Sicherheit vor dem Zugriff der Bundeswehr.

Ein weiterer Blick in die Statistik scheint die Wehrdienstflucht- Vermutung zu bestätigen: 1978 und 1985 war der Anteil der jungen Männer zwischen 18 und 25 Jahren fast ein Drittel höher als der der jungen Frauen, die nach Berlin zogen. 1995 ist dagegen die Mehrheit der jungen Neuberliner weiblich. Seit sich kein junger Mann mehr vor dem Militärdienst in die Insellage Berlins flüchten kann, gibt es anscheinend für die 18- bis 25jährigen weniger Gründe, in die Hauptstadt zu kommen.

„Berlin war mir eigentlich egal“, sagt Cornelius Rapp, auch 22 Jahre alt und seit vier Monaten in der Stadt. Er ist nach Berlin gekommen, weil die Firma, für die er arbeitet, ein Studio für Fernsehfilmvertonung, hergezogen ist. Er kommt aus Bremen, wäre seine Firma nach Köln gegangen, wäre er auch dorthin gezogen.

Für ihn war es eher eine pragmatische Entscheidung. Zwar ist es ihm recht, an der Spree und nicht am Rhein gelandet zu sein, ein bestimmter Berlin-Mythos hat ihn jedoch nicht gerufen. Er rechnet sich hier bessere berufliche Chancen aus als an der Weser.

Jenseits der Szenarien, die Berlin in eine Reihe mit Moskau, Paris und London stellen, scheinen die jungen Leute praktischer an die Stadt ihrer Wahl heranzugehen. Nützt mir ihr Angebot oder nicht? Und sonst scheint die zurückgehende Zahl von westdeutschen Jungberlinern vor allem eines zu belegen: Näher als New York und Rio sind München oder Hamburg. Regionalmetropolen mit einem Einzugsgebiet und sonstiger Attraktivität für bestimmte Gruppen.

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