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■ Wer jetzt kein Haus hat, hat immer noch R. M. Rilkes Ballung architektonischer TopoiLyrik für den harten Frost

Schwer besoffenen Hauptes neigt sich das Fontane-Jahr seinem Ende entgegen. Bevor Goethe 1999 den markanten Schädel zwecks Feier der Wiederkehr seines 250. Wiegenfestes aus der Gruft wuchten und, so der Wille der legasthenisch veranlagten Frankfurter Oberbürgermeisterin Petra Roth, laut „wieder gelesen“ wird, dürfen, müssen und sollten wir des 123. Geburtstages des beide genannten Wortgiganten ikarusweit überflügelnden Rainer (René) Maria Rilke gedenken. Denn „der Gerhart Hauptmann des Taschentuchs“ (Priv. Doz. Knorl Salski) sagt uns heute mehr denn viel. Zumal angesichts der bevorstehenden „harten“ (Oliver Stone) Wintertage und -abende.

Als was galt Rilke bis dato? Als Symbolist. Und als Vertreter des parfümierten Neobarocks. Als Feind von Karl Kraus und großspuriger Jammerlappen, Rodin- Verehrer, Existentialist postkierkegaardscher Prägung, als Bauernlümmel/Kleinbürgerbengel-Mischung, der sich Adelsgeblütigkeit vorgaukelte. Als, mit Rilke-Magistrant Dr. Gsella zu urteilen, „Kryptofaschist“ und „arme Sau“.

Das mag stimmen. Doch was die allgemeine Germanistik und insonderheit die spezielle Rilkephilologie jahrzehntelang verabsäumte, nämlich Rilkes Gedichtanfänge motivisch zu lüften, seine Einstiegshilfen in das „Haus des Seins“ (Heidegger) zu entschlüsseln, um unsereinem Lebensorientierung zu sichern: Es wird diese Aufgabe zu bewerkstelligen sein, bevor der Winter kommt.

„Die Stadt“, bewirbt der Aufbau-Verlag seinen „Fontane Kalender 1999“ (34 Mark), „bot ihm im privaten und gesellschaftlich- künstlerischen Rahmen alles, was er brauchte [...]. Sie kehrt im Kosmos seiner Romane wieder als eine Art Fontanopolis.“ Stadt heißt hier beschränkt und beengt: das garstig-neblige, prosaisch kalte Berlin. Rilke, geboren in Prag, ansässig später u.a. in Worpswede und St. Pölten, gestorben nahe Montreux („Smoke on the water“!), griff weiter aus. Er trug die Last der Welt im Herzen der Rilkapitale. Seine Poesie will uns Vorschein späterer „Atomwinterdichtung“ (Adorno), d.i. Beckett und Wolf Biermann, sein und „erschloß der Dichtung neue Bereiche des Sagbaren“ (Gero von Wilpert).

„Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr“, mahnt Rilkes bekanntester Text, „Herbsttag“. Allein, bei konsequenter Durchsicht frühester Auftaktzeilen (vgl. Werke I, Frankfurt/Main 1955, p. 9-14) sticht nunmehr eine singuläre Ballung architektonischer Topoi hervor. „Im alten Hause; vor mir frei“, beginnt frohgemut sein Debütgedicht, gefolgt von „Alte Häuser, steilgegiebelt“. Schon drücken sich Beengnis und Zuspitzung aus, „Das Adelshaus mit seiner breiten Rampe“ (Gedicht No. 3) täuscht Schönheit und Freiheit nur an und wird zurückgeworfen – Exemplar vier – auf trübe Melancholie angelegentlich feiner Träume betr. alter Zeit: „Schau so gerne die verwetterte / Stirn der alten Hofburg an“.

Verwettert! Meint: Das Wetter hat die Stirn, uns mit Brettern vor den Kopf zu hageln! „Gern steh ich vor dem alten Dom“, kontert Startposition fünf – Wiederkehr der Rilkathedrale –, „Wie von Steinen rings, von Erzen“ (Nr. 6) „Alle Wände in der Halle“ (sieben), raus, es zieht, es friert! „Dort seh ich Türme, kuppig bald wie Eicheln“ (acht), „Die moderne Bauschablone“ (neun) ist, keine Rettung mehr!, verkorkst, versaut, verregnet, doch „Traut ists, wenn verstohlen heulen / im Kamine wilde Winde“ (number ten), o hach, ein Dach...

Trost und Trauer mit Rainer. Besser konnt's keiner.

Und im kommenden Sommer jubilieren wir wieder, einem aus dem Gedächtnis Wladimir Majakowski zugeschriebenen Dreizeiler zufolge: „Wiese grün. / Sonne lacht. / Sowjetmacht.“

Hurra! Jürgen Roth

Nächste Woche: Rilkes Gebäudegedichte Vol. II (Part 11-20). Dann mit noch mehr zeitnaher Deutung!

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