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■ Wenn weder die Sozialpolitik noch die Polizei das Verbrechen in New York zurückgedrängt hat, wer dann?Ideologisiertes Vexierbild

Die Welt von Polizei und Verbrechen, das große gesellschaftliche Räuber-und-Gendarm-Spiel, ist ein trügerisches Spiegelkabinett und ein ideologisiertes Vexierbild. Sind Verbrechen für die meisten Menschen auch keine reale Bedrohung, eine Manifestation des Bösen sind sie für alle. Das Böse aber ist eine trügerische Kategorie, der man am besten durch das Platonische Gleichnis der Schattenbilder beikommt, an denen wir die Realität messen. Verbrechen kennen die meisten Menschen nur aus Schemen: vom Hörensagen, aus Gerüchten, aus Filmen und Geschichten, aus Nachrichten und Statistiken. Hinter dem Schattenspiel medial erlebter Untaten steht das wirkliche Verbrechen, und das ist je nach Standort des Betrachters etwas einigermaßen Unkompliziertes oder etwas sehr Komplexes. Für die einen ist Verbrechen das Werk von Verbrechern, für die anderen ein Phänomen, bei dessen Entstehung viele Faktoren zusammenspielen. Was den einen Verbrechensbekämpfung ist, ist den anderen die Bekämpfung von Verbrechern.

Wer vom Verbrechen nicht unmittelbar betroffen ist – und wer ist das schon? –, hat von Kriminalität meist ein soziologisches Verständnis, und das ist dem Rousseauschen Gedanken verpflichtet, daß Menschen grundsätzlich gut sind und schlecht nur durch Umstände werden, in die sie (meist) ohne eigenes Zutun geraten. Besserung kann nie das Ergebnis einer nur polizeilichen, auf einzelne Verbrecher gerichteten, sondern nur das Ergebnis einer politischen, auf die ganze Gesellschaft zielenden Anstrengung sein – „Jobs, nicht Cops!“ lautet die entsprechende Devise. Das macht das Beunruhigende an der Nachricht aus, in New York sei die Zahl der Verbrechen zurückgegangen. Wie soll das geschehen sein, in einer Zeit, da in Amerika Sozialhilfe abgeschafft wird, öffentliche Haushalte gekürzt sowie Mittel für Schulen, Jugend-, Bildungs- und Sozialarbeit gestrichen werden? Nun ja, da wären das amerikanische Jobwunder zu nennen, das im ganzen Land zu sinkender Kriminalität geführt hat, sowie der demographische Trend. Vorsicht, diese Erklärungen sind trügerisch und bestenfalls die halbe Wahrheit: Gerade in New York nämlich liegt die Arbeitslosenrate bei 9,5 Prozent (der Landesdurchschnitt unter 5 Prozent). Durch die hohe Einwanderung ist auch das Durchschnittsalter der New Yorker Bevölkerung niedriger als das der Amerikaner insgesamt. Und da die Verbrechensrate in New York doppelt so hoch wie im Landesdurchschnitt war, wirkt sich die Abnahme der Kriminalität in New York statistisch auf das ganze Land aus.

Wer soziale Ursachen für das Verbrechen verantwortlich macht, kann nicht gelten lassen, daß eine veränderte Polizeistrategie an dessen Rückgang maßgeblich beteiligt ist. Da kommt die Nachricht von der schweren Mißhandlung eines Einwanderers aus Haiti auf einem Brooklyner Polizeirevier gerade recht, um als Beweis dafür zu dienen, daß der spektakuläre Rückgang des Verbrechens in New York nur um den Preis weitverbreiteter Mißachtung von Bürger- und Menschenrechten erkauft worden sein kann.

Wenn also weder die Sozialpolitik noch die Polizei das Verbrechen in New York zurückgedrängt hat, wer oder was dann?

Schon die Frage und nicht erst die Antwort darauf gehört unter Ideologieverdacht gestellt. Die Suche von Kommunalpolitikern nach dem Erfolgsrezept für Verbrechensbekämpfung ist so trügerisch wie die der Wirtschaftspolitiker nach den Ursachen für wirtschaftlichen Auf- oder Abschwung. Die Demagogie der Fragestellung liegt darin, daß sich mit ihr Wahlen gewinnen lassen. Kaum ein Thema ist derart geeignet, die Emotionen von Wählern zu mobilisieren, wie das der Inneren Sicherheit – die ihrerseits meist mehr mit der angenommenen als mit der tatsächlichen Bedrohung zu tun hat. Unbefangener als Politiker, die nie um eine Antwort verlegen sind, können Wissenschaftler diese Frage stellen, sie können sich Ratlosigkeit eher leisten, denn ihre Beschäftigung hängt nicht unmittelbar an den Stimmungen der Wähler. „Letztlich kann keiner den Rückgang von Verbrechen besser erklären als deren Zunahme. Kriminologen sind wie Meteorologen ohne Satelliten, sie können immer nur über die Verbrechenszahlen von gestern Auskunft geben.“ So Prof. Franklin Zimring von der University of California in Berkeley. Und sein Kollege Lawrence Friedmann an der Stanford-Universität sagt es unverblümter: „Die ehrliche Antwort ist: Kein Mensch weiß, warum Verbrechensraten rauf- oder runtergehen.“

Und doch gibt es eine Antwort auf die Frage, warum in New York die Verbrechenszahlen – wenigstens zur Zeit – rückläufig sind. Sie ist beiden Positionen verpflichtet, sowohl der, für die Verbrechen das Werk von Verbrechern sind, wie jener, für die nur die Gesellschaft als Ganzes Verbrecher hervorbringt. Sie zieht zur Erklärung die gleichen Ursachen heran, die dem Verbrechen selbst zugrunde liegen. Verbrechen werden von Menschen begangen, und Menschen sind es, die das epidemische Verbrechen in New York zurückdrängen. Nach der Ursache für das Sinken der Kriminalität befragt, gab Gerson Goodman, eine Zufallsbegegnung auf der Straße von Washington Hights, einem als unsicher geltenden Stadtteil New Yorks, folgendes zur Antwort: „Ich glaube, wir haben im Laufe der Geschichte dieser Stadt besser als andere gelernt, miteinander auszukommen. Zeigen Sie mir eine Stadt auf dieser Welt, wo so viele Menschen derart unterschiedlicher sozialer und nationaler Herkunft auf so engem Raum letztlich so friedlich zusammenleben!“ Die gleichen Ursachen, die das Verbrechen entstehen lassen, dämmen es nämlich auch ein: der Zwang und die Erfahrung des Zusammenlebens.

Die Strategie des „Community Policings“, die Bestandteil der neuen New Yorker Polizeitaktik ist, baut auf den Aktivitäten solcher Nachbarschaftsinitiativen wie der Neighborhood Patrols auf. Wenn New Yorks Polizeipräsident Howard Safir jetzt unter dem Eindruck des Mißhandlungsfalles von Brooklyn alte Vorschläge aufgreift, wonach Polizisten sich den Community-Gruppen stellen, gar in ihnen Dienst tun sollen und sich überhaupt möglichst aus dem Kreis derer rekrutieren sollen, die ihrem Schutz anbefohlen sind, dann wird Verbrechensbekämpfung vom Kopf auf die Füße gestellt: Die Polizei unterstützt einen Prozeß, den die Bürger selbst begonnen haben – und die legen gerade in jenen Stadtteilen, in denen die Polizei notorisch besonders brutal auftritt, größten Wert darauf. Peter Tautfest

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