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Wenn man das Bild nicht sehen kann

Die Frage nach einem Zugang zu bildender Kunst kriegt eine besonders radikale Wendung, wenn es darum geht, Nichtsehende einzubeziehen. Die Kunsthalle Bremen geht dieser in ihrer Ausstellung „Kunst fühlen“ nach. Wie verläuft die Geschichte von Blindheit und Kunst?

„Sara mit Haube und Mantel“ von Mary Cassatt (1859–1926), die als Malerin ihr Seh­vermögen verlor Foto: ­Kunsthalle Bremen – Der Kunst­verein in Bremen

Von Benno Schirrmeister

Peter Schloss klebt Punkte an die Wand. Punkte, die etwas bedeuten. Aber entziffern wird ihre Botschaft nur können, wer sich mit dem Braille-Code vertraut gemacht hat, also der Blindenschrift. „Der Text wird auf keiner Hinweistafel in der Ausstellung in lateinischen Schriftzeichen wiedergegeben“, hatte der Kölner Künstler bei einem Treffen in der Bremer Kunsthalle versprochen. Mittlerweile ist dort die Ausstellung „Kunst fühlen“ eröffnet. Das Schildchen neben Peter Schloss’ Fries aus dunklen Punkten informiert jetzt darüber, dass die Arbeit den Titel „How To Do Things With Words“ trägt und 2024 entstanden ist. Schloss verwendet Punkte aus Moosgummi, Filz, auch Sandpapier, manche sind glatt, andere rau, wieder andere knubbelig. „Das ermöglicht typografische Effekte, die es vorher in Braille so nicht gab“, so Schloss. Aber das erkennt, wer das Kunstwerk berührt. Wer es nur anschauen will, den schließt es aus, so wie blinde und sehbehinderte ­Menschen von Museen und Galerien meistens ausgeschlossen sind.

Mit vollem Titel heißt die Bremer Ausstellung: „Kunst fühlen. Wir. Alle. Zusammen.“ Der Zusammenhang von Kunst und Sehverlust ist nur eines der Themen, die in ihr aufkommen. Sie lässt 16 Werke der Gegenwartskunst 10 kanonischen Stücken aus der Sammlung der Kunsthalle begegnen – von Frühbarock bis zur klassischen Moderne, von Hendrick Goltzius über Francisco de Goya bis Lovis Corinth.

Auch Henri de Toulouse-Lautrec ist dabei, die Impressionistin Mary Cassatt und ihr Freund und Kollege Edgar Degas. Sie alle waren im Laufe ihres Lebens körperlich beeinträchtigt und brachten daraus eigene künstlerische Wege der Welterfassung und -gestaltung hervor. In der Kunsthalle zu sehen ist etwa Henri Matisses ikonische, ab 1941 entstehende Bildfolge „Jazz“. Deren eigentümliche „Découpage“-Technik hatte Matisse entwickelt, als er infolge einer Darmkrebserkrankung nicht mehr malen konnte. Oder Zorka Lednárová: Die in Bratislava geborene Berliner Künstlerin nutzt mitunter die Reifen ihres Rollstuhls, auf den sie seit 2012 angewiesen ist, zum Farbauftrag. So hat sie mit ihm, in brutalem Schwarz für „My Body An Obstacle“(2021), acrylbunte Silhouetten auf Rohleinwandbahnen überfahren.

Konzipiert hat die Schau ein Team von Menschen mit und ohne Diagnose, unter anderem unterstützt von Lara Franke, der Inklusionsreferentin im Museum. „Wir. Alle. Zusammen.“ – Der etwas stolpernd interpunktierte Ausstellungstitel wirft die Frage nach Teilhabe an der Kunst auf. Das fängt schon mit der sehr leichten Übung an, Bilder so zu hängen, dass auch Kinder, kleinwüchsige Menschen, Roll­stuhl­nut­ze­r*in­nen sie sehen können. Zu ihrer Radikalität findet diese Frage aber im Verhältnis von Blindheit und bildender Kunst. Denn „Blindheit symbolisiert in ihr das Ganz-Andere“, resümiert Lilian-Fabian Korner. Korner ist In­klu­si­ons­ak­ti­vis­t*in und Kunst­his­to­ri­ke­r*in aus Frankfurt am Main.

Eine für die Kunsttheorie wichtige Formulierung dieses Verhältnisses zum „Ganz-Anderen“ stammt vom barocken Kunstkritiker Roger de Piles, der in seinem „Cours de Peinture“ 1708 die Erzählung von einem blinden toskanischen Bildhauer und Zeichner aufbrachte. Der habe viele damalige Promis porträtiert, etwa den französischen Staatsrat Louis Hesse­lin. Den Namen des Künstlers aber verschweigt de Piles. Seither geistert der Anonymus fast wie ein Running Gag als Denkfigur durch die Kunsttheorie, um die Grenzen und Hierarchie von Malerei, Bildhauerei und Zeichnung zu klären.

Gleichzeitig kennt die Kunstgeschichte genügend namhafte Ma­le­r*in­nen, die sich aufgrund ihres mangelnden Sehvermögens gezwungen sehen aufzugeben – oder ihre Kunst zumindest zu ändern. Wie Mary Cassatt. Nach zahlreichen Katarakt-Operationen verzichtet sie auf selbst zu mischende Ölfarben. Stattdessen verwendet sie Pastellkreide, neigt in ihren späten Gemälden zu Ocker-, und Brauntönen, was auf den Gelbfilter zurückzuführen sei, den die Augenlinse bei einem grauen Star erzeugt, wie kürzlich die in Madrid lebende Augenärztin Carmen Fernández Jacob beobachtete. Andere, wie Heinrich Nüsslein, der wegen seiner Sehbehinderung von der Kunstakademie ausgeschlossen wurde, nutzen den Topos vom „Blinden Seher“ für sich: In den 1920er Jahren wird er international als Meister mediumistischer Malerei gefeiert. Manche Bilder malt er vor Publikum in komplett verdunkelten Räumen. Wie nahe dieses „automatische Malen unter Ausschaltung des Wachbewusstseins“ den Experimenten des Surrealismus kommt, hatten Zeitgenossen durchaus erkannt, doch nicht der Kunstmarkt und die Museen.

Auch heute tun die sich noch schwer gegenüber behinderten Künstler*innen, insbesondere blinden. Konzeptkünstlerische Versuche Sehender, die Erfahrung von Nichtsehenden zu erfassen, wie von der Französin Prune Nourry, die mit verbundenen Augen Büsten schafft und in blickdichten Räumen ausstellt, sind offenbar leichter zu verkaufen als, beispielsweise Bianca Raffaellas weißliche, flackerige Malerei. Auf hellen Leinwänden lässt die erste gesetzlich blinde Kunst-Absolventin der Londoner Kingston School of Art Gegenstände und zarte Blüten nur ungewiss auftauchen.

Forschung zum Thema gibt es, aber eher in den USA, in Großbritannien, auch in Frankreich. In Deutschland steht noch immer Volkmar Mühleis’ vor 20 Jahren veröffentlichte phänomenologische Studie zu „Kunst im Sehverlust“ recht allein da. Mühleis fordert dazu auf, Kunst möglichst zu ertasten und „das Sehen so weit zu beleuchten, wie es ins Nicht-Sehen reicht“.

Blinde Menschen, nicht als Künstler*innen, sondern als Motiv der Kunst, tauchen hingegen seit der Neuzeit vielfach auf. Für diese Tradition sei „Blindheit ein Rätsel oder eine Metapher“, heißt es in Lilian-Fabian Korners Aufsatz „Ästhetik Blinder Tastempfindungen“. Es gibt eine ganze Flut von Darstellungen, die Blinde als Medien einer dem Blick verschlossenen Welt des Inneren und des Übersinnlichen, als Verkörperungen der Gerechtigkeit, als klägliche Bettler oder als feindselige Allegorie des verstockten Volkes Israel zeigen. Oft überlagern sich die Motive, wie in Pieter Bruegels „Blindensturz“, das vor niederländischer Dorfkulisse eine Gruppe tölpeliger, armseliger, teils geblendeter, teils augenloser Männer kurz vor dem Fall in einen Graben zeigt. Wie die meisten Blinden, die in der Kunstgeschichte auftauchen, sind sie komplett blind. Das betont die vermeintliche Andersartigkeit. Im wirklichen Leben trifft das nur auf eine kleine Minderheit der über 500.000 stark sehbehinderten Menschen in Deutschland zu.

Soll bildende Kunst für diese Menschen zugänglich gemacht werden, geht es nicht nur um Genuss, auch nicht um das Prinzip, einen Rechtsanspruch auf Teilhabe zu verwirklichen. In einer von Bildern beherrschten Gegenwart sind Blinde unmittelbar betroffen von der Bildproduktion. Gerade die Kunst entwickelt und kommuniziert in Gemälden, Installationen und Plastiken Konzepte, deren Verständnis eben „nicht von spezifischem Vorwissen oder individueller Wahrnehmung abhängen“, wie der Disability-Forscher Simon Hayhoe es beschreibt. Allerdings wird ein Verständnis erschwert, wenn Museen mit dem Imperativ „Bitte nicht berühren!“ die Kunst für Nichtsehende überhaupt nicht wahrnehmbar werden lassen.

Seit de Piles’ Aufsatz von 1708 geistert ein Blinder als Denkfigur durch die Kunsttheorie

Dabei wäre das Ertasten eine Möglichkeit, Zugang zur Kunst zu finden. Man müsste eigentlich „ans Original gehen“, so Korner. „Das ist ja auch das, was die sehenden Menschen wahrnehmen.“ Diese von Elisabeth Salzhauer Axel und Nina Sobol Levent 2003 in der Schrift „Art Beyond Sight“ propagierte Praxis hat man in der Kunsthalle Bremen vor Jahren schon aufgegriffen. So gibt es Tastführungen mit Handschuhen an kostbaren Originalen. Die gestalterischen Gesten einer Camille Claudel lassen sich dann an ihren Bronzen körperlich nachvollziehen. Das kann eine geradezu berauschende Nähe schaffen – und eine räumliche mitunter auch bildliche Vorstellung. Auch zeigt die Kunsthalle Bremen Nachbildungen von Gemälden als Relief, deren Aufbau, Proportionen oder Perspektive sich durch das Ertasten der Oberfläche erschließen lässt. Und es gibt Audiodeskriptionen: „Das Mädchen füllt die Fläche des 90 mal 61 Zentimeter großen Bildes weitgehend aus“, informiert eine Stimme über Paula Modersohn-Beckers „Worpsweder Bauernkind“.

„Diese Texte finde ich ausgesprochen gut“, meint Joachim Steinbrück. Steinbrück, seit 55 Jahren erblindet, war Richter, dann Jahre lang Landesbehindertenbeauftragter. Dass nicht nur die Kunsthalle in Bremen zugänglicher werden will, ist auch sein Verdienst. Er saß im „Kunst fühlen“-Kuratorium. Und er besitzt privat ein Kunstwerk. Einen Wandteppich mit abstrakten Formen, die an eine toskanische Landschaft erinnern könnten.

„Da habe ich mir eine Vorstellung zu gemacht“, sagt er. „Ob das dem entspricht, was dieses Bild zeigt, das weiß ich bis heute nicht.“ Um diese Vorstellungen von Kunst, diesen sinnlich-zerebralen Schatz, der jedem offen steht, darum geht’s.

„Kunst fühlen. Wir. Alle. Zusammen“, Kunsthalle Bremen, bis 14. September

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