Wenn Prometheus das geahnt hätte

■ „Glas“ von Elfriede Müller in Düsseldorf uraufgeführt

Elfriede Müllers erstes Stück heißt Bergarbeiterinnen und spielt im hintersten Saarland, wo die Autorin geboren ist. In Bergarbeiterinnen hat sie sich den biographischen Ballast von der Seele geschrieben, und es paßt zu dem Erstling, daß eine Figur vorkommt, die (wie die Autorin) Schauspielerin in Frankfurt ist, sich in den Wald zurückzieht und dort an die Schreibmaschine setzt. Am 16. Juli 1989 fand in einer lauen Sommernacht im Berliner Literaturhaus die zweite Uraufführung von Elfriede Müller statt. Ein „Glanz und Gloria“ mit dem Titel Damenbrise, in dem sie sich richtig schön abreagiert hat: Ein Regisseur muß dran glauben wie einige Theaterbesucher (abgedruckt in 'Theater 1989‘). Wie klug es von der Autorin war, sich diese Dinge von der Seele zu schreiben, merkt man jetzt dem neuen abendfüllenden Stück an. Glas wird nicht mehr mit biographischem Kummer strapaziert, sondern erweist sich als bitterböse Zeitanalyse mit Witz und guten Rollen.

Sylvester wird gefeiert, ls eine Art Betriebsausflug. Walter Lechner, Chef der Firma „Prometas, Porzellan und Sanitär“ lädt seine Mitarbeiter ein in die Villa des (ausgebooteten) Firmengründers Präfahl. Der hat zwar einen Festraum hergerichtet, tritt aber selbst nicht in Erscheinung. Prometheusstatuen und gläserne Götterskulpturen füllen den Raum - für Werbetexter Jörg Schön eindeutig „too much“. Aber die kreativen Schrullen des Alten lassen sich im Porzellandesign noch verwerten, „seine Macken machen wir zu Profit“, wie Lechner sagt (dessen triefend-dynamische Jovialität Wolfgang Arps treffend über die Rampe bringt). Dazu müssen die Teller und Tassen zu „persönlichkeitsdefinierenden Produkten“ hochgestylt werden, denn wie gelingt es sonst, „dieser Flautengesellschaft die letzten Kröten aus der Tasche zu ziehen“? Für dieses Marketingkonzept ist Jörg Schön der ideale Texter, dem alles zum flotten Slogan gerät. Seine Frau ist ebenfalls erfolgreich: sie fotografiert Stilleben, mit denen sie der Menschheit ihre Vergänglichkeit vor Augen führen will, und genießt ansonsten das Leben.

Alles wird zum Stil, jedes Verhalten zur Attitüde, jeder Auftritt zur Show. Der Prometheusfigur an der Wand frißt ein Adler die Leber weg - Prometheus hat den Menschen das Feuer gebracht und wird dafür von den Göttern bestraft; auch darüber plaudert die Partygesellschaft, bis Lechner das Thema vom Tisch wischt: „Lassen wir den Anfang auf sich beruhen. Das Ende machen wir.“

Dieses Ende wird vorgeführt. In ihren Auftritten, ihrem blinden Streben nach Geltung, aber auch noch in ihren Beschädigungen versuchen sich die Personen zu verkaufen. Thomas Kiesel, Designer von „Prometas“, möchte gern Kunstmaler sein und umwirbt winselnd eine Muse: die Pressereferentin der Firma Ilse Glimmlich. Die interessiert sich zwar für menschliche Abgründe, kann aber Nähe nicht ab. „Steril wie ein vakuumverpackter Mundschutz“, charakterisiert sie die Mutter, die ungeladen zu der Party erschienen ist und durch eine andere, altmodischere Art von Bosheit glänzt (Dietlinde Hillebrecht sägt sehr komisch an aller Nerven).

Für Gruppendynamik ist also gesorgt, der Abend plätschert dahin, mit zunehmendem Besäufnis geben die Figuren Peinlichkeiten preis, wie das halt so ist, und dann geschieht die Katastrophe. Lechners Gattin Mathilde, die offensichtlich schon länger aus ihrer Rolle des Luxusweibchens in den Wahnsinn ausgestiegen ist, bricht aus und zusammen. Sie klammert sich an eine Glasfigur und schreit: „Mein Gott, rette mich!“ Allen ist der Abend verdorben, sogar Sabine Schön wird von Zweifeln über die Existenz befallen, da zeigt ihr Mann, der Texter, was in ihm steckt. Mathildes Schrei brachte ihn auf eine Idee: Solche Glasfiguren in Lebensgröße herstellen und als Götter für zu Hause anbieten: das würde der Verkaufsschlager werden. „Eine Art Heimtrainer fürs Selbstbewußtsein“, man setzt oder stellt sich in die Glashülle und zehrt vom göttlichen Atem. „Man wird der Gott, den man ersteht.“ Hohle Götter für hohle Menschen.

Elfriede Müller will das Stadium der Gesellschaft zeigen, in dem auch die Verzweiflung noch verwertet wird. Das Stück könnte tatsächlich Entsetzen hervorrufen, aber dafür müßte es wohl härter inszeniert sein als in Düsseldorf, wo nur momentweise eine Beklemmung im Zuschauerraum entstand. Regisseur und Bühnenbildner Fred Berndt setzt zwar auf Naturalismus (mit dem gewissen poetischen Passagen einfach nicht beizukommen ist), vertraut aber zuwenig auf das Satirepotential des Normalen. So agieren Ulrich Beseler und Christiane Lemm als Yuppie-Paar viel zu aufdringlich fröhlich-schick, was den Witz sofort erschlägt; und Giulietta S. Odermatt muß verklemmt an ihrem Kleid zupfen und nervös ihre Brille zurechtschieben (ach, diese Klischees!).

Gewisse Längen müssen allerdings der Autorin angerechnet werden. Sie kann das Dilemma unserer Zeit wunderschön in Sätze fassen, darum hängt sie zuweilen noch ein paar überflüssige hintendran und strapaziert damit manche Rollen über Gebühr. Die Düsseldorfer Uraufführung hat gezeigt, was in Glas als Konversationsstück steckt, aber da muß noch mehr drin sein. Darum sei dem Stück und der Autorin gewünscht, daß sich andere Bühnen an Glas herantrauen; umso mehr, als hier ein Zeitstück vorhanden ist, deren Fehlen immer bejammert wird.

Eva Pfister