Wem gehört der öffentliche Raum?: Die Nachbarn, die Box und der Müll
In Hamburg-St. Pauli kämpft eine Nachbarschaft um eine Tauschbox. Warum tut sie das? Über ein Beispiel lokaler Ökonomie.
A ls ich das erste Mal von der Tauschbox am Paulinenplatz höre, ist sie schon nicht mehr da. Nur auf Fotos ist sie noch zu sehen: aus massivem Holz, groß wie ein Kleiderschrank, mit eigenen Regalen für die Bücher in der Mitte und daneben Stangen für die Kleider und ganz unten Schubladen für die Schuhe. Beschützt von einem Dach mit einem „Freebox“-Schild, stand sie am Zaun des Spielplatzes mit alten Bäumen, der in der Mitte des Paulinenplatzes liegt.
Die Box sah aus, als sei sie für die Ewigkeit gebaut, doch das war ein Irrtum: „Tag X kam überraschend schnell!“, heißt es in einer Mail, die mehr einem Hilferuf glich, geschrieben im Namen einer Nachbarschaftsgruppe, die sich um den Betrieb gekümmert hatte. Sie hatten Gerüchte gehört, dass die Stadt die Box räumen wolle. Doch als der Absender die Mail verschickte, war es schon zu spät. Die Hamburger Stadtreinigung hatte vollendete Tatsachen geschaffen.
Ein Video, mit einem Handy aufgenommen von einer Passantin, zeigt zwei Mitarbeiter der Stadtreinigung in orangefarbener Arbeitskleidung, die mit großen Äxten auf die umgekippte Box einschlagen. Von hinten läuft ein dritter Mann in Orange auf sie zu, aus Richtung eines Lieferwagens der Stadtreinigung, der auf der Straße geparkt ist.
Der Paulinenplatz auf St. Pauli liegt zentral zwischen Sternschanze und Reeperbahn, bis zum Fußballstadion des Stadtteilclubs ist es nicht weit. In den Straßen parken Mittelklasseautos, viele VWs, kleine Mercedesse, ab und zu ein alter Campingbus. Ein großes Gebäude aus gelben Klinkerstein beherbergt derzeit ein Gymnasium, das zwischenzeitlich heimatlos geworden war, in den Fenstern bekunden gelb-blaue Schilder Solidarität mit der Ukraine.
Kundgebung vor dem Zaun
Am Samstag nach dem Abriss, die Blätter sind noch auf den Bäumen, aber es ist eisig kalt, hat die Freebox-Gruppe zu einer Protestkundgebung geladen. Vor dem Zaun stehen kleine Grüppchen, die Nachbarschaft aus den umliegenden Altbauwohnungen ist da. „Meine Freundin kommt am Wochenende aus Lüneburg, aber als Erstes geht sie nicht zu mir, sondern zur Tauschbox“, witzelt ein Mann; später erzählt er von dem Bienenstock, den er in der Nähe betreut. Passanten bleiben stehen, erkundigen sich, schütteln den Kopf, tragen ihren Namen in Unterschriftenlisten ein.
Am Zaun zum Spielplatz hängen Transparente, auf denen jeder, der will, Botschaften zur Freebox hinterlassen kann: „WTF?“ steht in einer Sprechblase, die aus dem Schnabel einer Taube kommt, „Sharing is caring“ – und: „Es lebe die Umsonstökonomie“.
Daneben, ungefähr an der Stelle, an der die alte Tauschbox stand, entsteht langsam eine neue provisorische Sammelstelle: Ein Tisch ist da, auf dem ein Koffer mit Kleidern steht, irgendjemand hat Regenschirme an dem Zaun befestigt, die den Tisch beschützen.
„So einfach kommentarlos abreißen, das geht doch gar nicht“, sagt ein Nachbar. Die Kompromisslosigkeit des städtischen Vorgehens ist es, die hier viele empört. Verkündet die Stadt Hamburg auf ihrer Homepage nicht stolz, wie toll es mit der Sharing-Ökonomie in der Stadt läuft? Und führt sie als leuchtende Beispiele nicht auch die Tauschboxen an, darunter explizit die am Paulinenplatz?
Zumindest, da sind sich die Tauschbox-Freunde an diesem Samstag einig, hätte die Stadtreinigung den Abriss ankündigen können, so wie sie es bei den kaputten Fahrrädern macht, die ein paar Meter weiter an einem Geländer stehen. Auf den Fahrrädern kleben orange-rote Zettel, auf denen steht, dass sie weggeschafft werden.
Inzwischen ist auch durchgesickert, warum die Stadtreinigung glaubte, die Tauschbox beseitigen zu müssen: In letzter Zeit sei der Bereich um die Box herum jeden Morgen zugemüllt gewesen, Matratzen und Möbel seien abgestellt worden, teilt die Behörde mit. Auf dem Spielplatz sei übernachtet worden, man habe morgens immer öfter Glasscherben und Spritzen einsammeln müssen.
Die Stellungnahme ist in einem um Verständnis bemühten Ton geschrieben, etwa wie: „Nehmt’s nicht persönlich, Leute, aber so ging das echt nicht weiter“, nur auf Behördendeutsch. Hamburg, das darf man nicht vergessen, wird rot-grün regiert, der Bürgermeister ist SPD, der Amtsleiter des Bezirks Hamburg-Mitte, zu dem St. Pauli gehört, auch.
„Vermüllung“ als Argument
Doch wie sieht es nun aus, ist an den Vorwürfen etwas dran? Ist „Vermüllung“ überhaupt ein Argument in einer Stadt wie Hamburg, wo die Leute sowieso ihre Sachen abstellen, wenn nicht hier, dann woanders? Die Meinungen dazu gehen an diesem Samstag weit auseinander. Vermüllt? „Auf gar keinen Fall!, sagte eine Anwohnerin empört. „Es war ersichtlich, dass es gepflegt wird.“ Ein paar Tage später treffe ich die Frau zufällig wieder, in Begleitung eines kleinen Mädchens, wie sie sich die Sachen anschaut, die am Zaun liegen. In der Hand hält sie quietschrosa Kinder-Gummistiefel.
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„Bestimmt gibt es auf dem Spielplatz Spritzen und Flaschen, aber das hat doch nichts mit der Freebox zu tun“, meint ein anderer Anwohner. Auf St. Pauli müsse man leben und leben lassen, so sei der Stadtteil eben.
Andere denken, dass es in letzter Zeit schon Probleme gegeben habe. „Es gibt Leute, die manchmal alte Sofas herbringen, das ist asozial“, sagt ein Nachbar. Ein anderer berichtet, dass er, wenn er nachts aus dem Fenster auf den Paulinenplatz schaute, im Dunkeln Gestalten mit Stirnlampen gesehen hat, die sich an der Box zu schaffen machten. Am nächsten Morgen hätten die Sachen dann immer verstreut herumgelegen.
Tatsächlich ist der Stadtteil St. Pauli, was die Menschen angeht, die dort leben, noch wirklich gemischt, auch wenn die Preise bei den Immobilien und bei den Neuvermietungen ins Astronomische gestiegen sind. Um den Paulinenplatz herum halten sich Obdachlose auf, eine Zeit lang hatten sie ihr Nachtlager sogar an einer überdachten Ecke der Schule, dort, wo jetzt die Fahrräder stehen. Es gibt im Viertel Menschen mit Drogenproblemen, und um die Ecke, im Hotel Budapester Hof, sind Geflüchtete aus der Ukraine untergebracht. „Die haben im Sommer auf dem Paulinenplatz ihr Wohnzimmer aufgeschlagen“, sagt ein Anwohner, sogar Sessel hätten sie angeschleppt. Der Spiegel berichtete.
Auf der anderen Seite aber gibt es ja auch die Anwohner, die sich für die Tauschbox engagieren. „Da gibt es eine Dame, die immer aufgeräumt hat, die ist jetzt leider nicht da“, sagt ein Anwohner. Kurz darauf: „Aber da hinten ist sie ja!“
Eine Frau mit zersausten Haaren nähert sich und stellt sich als Diana vor. „Ich habe mich eine Zeit lang schon sehr um die Box gekümmert, jeden Morgen zwischen 5 und 6 war ich hier“, sagt Diana. Aber dann bekam sie Corona, „gerade als das überhandnahm mit den Möbeln und so, und als ich wiederkam, war die Box weg“.
Diana sagt, dass es ihr nicht gut ging damals und dass die Box ihr geholfen habe. „Ich hab so tolle Leute kennengelernt!“ Auf dem Instagram-Kanal der Freunde der Tauschbox vom Paulinenplatz ist Diana mit einem Schild zu sehen, das sie hochhält. „Die Freebox hat mich aus der Depression geholt“, steht darauf, mit einem Smiley.
Derjenige, der den Widerstand organisiert und so etwas ist wie der inoffizielle Sprecher der Tauschbox-Gruppe, ist Christian, ein Sozialarbeiter, der sich um die Tauschbox neben seiner Arbeit kümmert. Wir haben uns ein paar Tage nach der Protestkundgebung am Paulinenplatz verabredet, er ist schon da, als ich komme, und redet mit Passanten. Inzwischen steht hier schon mehr, ein weißes Regal ist dazugekommen, mit einer Plastikfolie als Vorhang gegen den Regen, in dem vor allem Bücher drin zu sein scheinen. Der Kleiderkoffer auf dem Tisch ist vom Regen leider inzwischen etwas durchnässt, auf dem Boden stehen Plastikkisten mit Schuhen.
Auch nach dem Abriss ist die Stelle am Zaun hoch frequentiert, oft vergehen nur ein paar Sekunden, bis wieder jemand kommt und schaut. Eine junge Frau stellt einen Wäscheständer ab. „Er ist nicht mehr ganz in Ordnung“, sagt sie entschuldigend, nachdem sie kurz im Koffer mit der Wäsche gestöbert hat. Eine Minute später ist der Wäscheständer weg, genauso wie der Stapel aus Bilderrahmen, den eine junge Mutter auf dem vorderen Gepäckträger ihres Fahrrads balanciert, während ihr Kind hinten im Kindersitz dämmert.
Weil es so kalt ist, gehen wir in den kleinen Imbiss gegenüber, er heißt „Kleine Pause“ und hat die unaufgeregte Ausstrahlung einer Uni-Cafeteria der 80er Jahre. Es riecht nach Fett, auf der Karte stehen Burger und Spare Ribs, auch Schaschlik wäre zu haben, der Kaffee kommt aus der Warmhaltekanne. Man kennt sich. „Einen Tee?“, fragt die Bedienung, Christian nickt.
Die Box, wie sie war, stand da noch gar nicht so lange, erzählt Christian, erst seit dem ersten Corona-Lockdown. Erst waren sie zu dritt, die sich darum gekümmert haben, später waren es bis zu zehn Leute. Eigentlich seien sie gut organisiert, in einer Telegram-Gruppe, in der jeder, der an der Box war, um aufzuräumen, für die anderen eine Nachricht mit Fotos hinterließ.
Sie malten Schilder, dass große Möbel nicht hier hingehörten. Und wenn doch welche kamen, organisierten sie ein Auto und schafften die Matratzen zum nahen Recyclinghof, manchmal reichte darum auch ein Fahrrad mit Anhänger.
Dann aber wurde eine Hauptakteurin krank, eine andere ging in den Urlaub, und Christian selbst zog einige Kilometer weiter nach Altona. Weitere Aktive zogen innerhalb von St. Pauli um, ein paar Straßen zu weit. Christian versuchte noch sie zum Weitermachen zu bewegen, aber sie waren weg. „Das haben wir unterschätzt“, sagt er nachdenklich und rührt in seinem Tee.
Inzwischen hat Christian wieder einige Leute zusammen, und es ist ein Gespräch mit dem Bezirksamt angesetzt. Die Tauschbox, sagt er, sei „mega“, er betrachtet sie als Experiment: „Ich find das total spannend, wie man mit öffentlichem Raum umgeht in Deutschland.“
Ein paar Tage sind vergangen, auf dem Paulinenplatz pfeift der Wind, und Vio, Christians Freundin, sammelt Unterschriften für das Gespräch mit dem Bezirksamt. „Die Box war unser Coronaprojekt“, sagt Vio. Für sie gibt es keinen Müll, das hat ihr ihr Vater beigebracht, mit dem sie Haushaltsauflösungen besuchte und auf Trödelmärkte ging.
Vio wohnt nah am Paulinenplatz, im Karoviertel, wo sie als Barrista arbeitet, und sagt Sätze wie: „Es ist Teil meiner Identität, Dinge wiederzuverwenden.“ Eine Frau nähert sich mit einem jungen Mädchen, das eine hellrosa Pudelmütze trägt. „Sie sind von der taz?“, sagt sie. „Die Zeitung würd ich ja nicht mit der Kneifzange anfassen!“
Aber sie redet mit der taz. Die Frau trägt einen Wollschal gegen die Kälte und sagt, dass sie es auch ganz schlimm findet, wie viel weggeworfen werde: „Ich hab schon lange nichts mehr gekauft.“ Ihre ganze Wohnung habe sie ohne Geld eingerichtet, den ganzen Hausrat besorgt. „Ich musste ja nochmal komplett neu durchstarten, und das in meinem Alter.“
Sylvana, Vios Mitstreiterin, kommt mit Erna an der Leine her, einer betagten Hundedame, in dem auch ein bisschen Dackel steckt. In der Paulinenplatzgruppe, sagt Sylvana, habe sie nur nette Leute kennengelernt. „Leute, die etwas tun wollen und dann auch wirklich etwas tun.“
Sylvana wohnt um die Ecke und ist Köchin. Sie sagt, es mache ihr Spaß, aufzuräumen. „Aber du müsstest mal Christian sehen, wenn der aufräumt. Da bin ich gar nichts gegen!“
500 Unterschriften hat die Freebox-Gruppe vom Paulinenplatz am Ende gesammelt, das Treffen mit dem Bezirksamt wurde einmal verschoben, verlief dann aber erfolgreich: Die Freebox wird wiederkommen, wie genau, müssen die Aktivisten mit der Stadtreinigung besprechen, so das Ergebnis. Sie sollen wohl Verantwortliche benennen.
Die Stadtreinigung steht am Anfang und am Ende dieser Geschichte, auch sie will ja nur aufräumen. Nur dass, was sie darunter versteht, womöglich nicht immer dasselbe ist wie das, was die Menschen vor Ort wollen.
Eva räumt auf
Bei meinem letzten Besuch auf dem Platz, an dem die Tauschbox stand, ist Stille eingekehrt. Vor der Behelfskonstruktion, die die Tauschbox vertritt, steht Eva. „Ich räum ein bisschen auf“, sagt sie und stellt Bücher um, damit sie nicht nass werden.
In dem Regal stehen unter anderem: „Vegan in Topform“, gebunden, mit Umschlag und Farbfotos, ein hellgrünes „PONS Business English“, Marcel Reich-Ranicki: „Mein Heine“, und ein Roman von John Updike.
Eva hat sich einen grün geblümten Stoff mit lila Punkten geholt, daraus will sie „was nähen“. Als sie weg ist, kommen zwei Männer und diskutieren lautstark auf Russisch über eine gelbe Reisetasche, die auf dem Tisch liegt. Woher sie kommen? „We are from Ukraine“, sagt der eine, aber er sei in Indien geboren.
Die Tasche nehmen sie mit.
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