: Wem gehört Auschwitz?
Juergen Teller hat die Gedenkstätte Auschwitz fotografiert. Tragen seine Bilder dazu bei, die Erinnerung wachzuhalten?

Von Tal Sterngast
Die Überlebenden müssten sich damit abfinden, dass Auschwitz ihren immer schwächer werdenden Händen entgleite, schrieb Imre Kertész. „Aber wem wird es gehören? Keine Frage: der nächsten Generation und dann den darauffolgenden – natürlich solange sie Anspruch darauf erheben.“ Der Überlebende der Konzentrationslager konstatierte in seinem 1998 in der Zeit erschienenen Text „Wem gehört Auschwitz?“, dass Beschreibungen daran scheiterten, die mörderische Realität der Vernichtungslager zu erfassen. Den Holocaust zu „kommunizieren“ fordere einen hohen Preis, der oft in Gestalt von Ästhetisierung und Kitsch entrichtet werden müsse. Je mehr darüber gesprochen werde, desto mehr verschwinde die tägliche Routine der Auslöschung von Menschen aus dem Bereich des Vorstellbaren.
Die wirkliche Frage sei, wie sich die Welt von Auschwitz, von der Last des Holocaust befreien solle. Das sei eine natürliche Sehnsucht, selbst die Überlebenden ersehnten nichts anderes, hielt Kertész fest. Diese Prognose scheint sich heute auf eine Weise zu bewahrheiten, die Kertész sich nicht hätte vorstellen können.
Die Täter kontrollierten fotografische Zeugnisse der Vernichtungslager streng. Angesichts des weitgehenden Fehlens von Fotografien oder Filmaufnahmen der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie sowie der Tabuisierung des Sprechens über die Verbrechen begann bereits kurz nach Kriegsende eine grundlegende Debatte über die Fähigkeit fotografischer Bilder, Zeugnis von den Lagern abzulegen, die bis heute nicht beendet wurde. Es handelt sich dabei um eine Debatte über das Wesen der Fotografie, von Beweisen und der Erinnerung in Bezug auf Wahrheit und Geschichte.
Mit der Zeit schwinden die letzten verbliebenen Zeugen. Zugleich wurde die privilegierte, durch den Abdruck von Objekten auf Film durch Licht geprägte Beziehung der Fotografie zur Realität überholt: Zuerst wurden die Bezüge digitaler Repräsentationen zur materiellen Realität schwächer; von KI erzeugte Bilder sind inzwischen Bilder ohne Ursprung, mit deren Hilfe eine alternative Realität geschaffen werden kann, die sich jenseits des Maßstabs von Wahrheit und Lüge befindet.
Im vergangenen Jahr wurde Juergen Teller, einer der coolsten und provokantesten Modefotografen der Welt und ein gebürtiger Deutscher, von Christoph Heubner, dem energischen Geschäftsführenden Vizepräsidenten des Internationalen Auschwitz Komitees, in die Gedenkstätte des Vernichtungslagers in Polen eingeladen, um dort zu fotografieren. In Auschwitz, einem Komplex von über 40 Konzentrations- und Vernichtungslagern, wurden mehr als eine Million Menschen, die meisten von ihnen Juden, ermordet. Auschwitz ist nicht nur ein Ort, sondern auch ein Symbol für den Holocaust und die Dilemmata von Dokumentation und Repräsentation.
Im Dezember 2024 besuchte Teller, der seit den 1980er Jahren in London lebt und vor allem für seine gewagten Porträts von Celebrities bekannt ist, mit seiner Frau Dovile Drizyte und seinem Verleger Gerhard Steidl für einige Tage Auschwitz I und Auschwitz II (Birkenau). Das Ergebnis, ein gut gemachtes Buch mit dem Titel „Auschwitz Birkenau“, erschien im März 2025 im Steidl Verlag in Göttingen. Es enthält über 800 mit einem iPhone im bekannten Stil Tellers aufgenommene Bilder, die den historischen und touristischen Ort abtasten.
Während die Pressemitteilung das Ergebnis als „visuellen Atlas“ und eine „beeindruckende Bestandsaufnahme“ beschreibt, scheint die Methodik der Organisation der Bilder sinnlich und intuitiv zu sein. Obwohl es Karten und einen losen Index gibt, wird Wirkung durch Vielfältigkeit und Wiederholung erzeugt, zu sehen ist eine schwer überschaubare Menge an schnell gemachten Bildern.
Juergen Teller: „Auschwitz Birkenau“. Text von Christoph Heubner, 820 Abbildungen. Steidl Verlag, Göttingen 2025, 448 Seiten, 35 Euro
Tellers Auge ist egalitär und hierarchielos. Zu sehen sind Panoramen von Baracken mit und ohne Besucher, Winterlandschaften in Dämmerung und Nebel – ein Wald, ein Teich, grün-braune Wiesen, rote Beeren, ein gelb-roter Bus. Der bekannte Elektrozaun, Innenansichten einer Gaskammer, das berühmte Schild über dem Eingangstor „Arbeit macht frei“. Es gibt auch heimlich von Häftlingen angefertigte Zeichnungen und Kinderzeichnungen zu sehen, Krematoriumsöfen, Eisenbahnschienen, Stapel leerer Zyklon-B-Dosen, Nahaufnahmen von Türen, Rohren, Ziegelsteinen, Rissen und Flecken an Wänden. Neben Trivialitäten wie einem Einfamilienhaus auf der anderen Seite des Lagers, elektrischen Straßenschildern, Eisständen für Besucher, einem Souvenirladen, Wartungsarbeitern.
„Es zeigte gar nichts“, sagte Jean-Luc Godard über das neun Stunden lange Dokumentarfilmprojekt „Shoah“ von Claude Lanzmann von 1985, das ausschließlich aus Interviews und Aufnahmen von Orten montiert ist. Lanzmann argumentierte, dass Bilder, dokumentarisch oder fiktiv, das Gegenteil von dem erreichten, was sie zu tun vorgeben: Sie schirmten den Betrachter von den Grausamkeiten ab, die sie zeigen. Godard, der in „Histoire(s) du cinéma“ von 1988 Bilder aus den Lagern verwendete, glaubte an die erlösende Kraft von Bild und Montage. Beide Standpunkte sind von theologischen Konzepten geprägt. Auf der einen Seite das „Undarstellbare“, eine Variante des jüdischen Bilderverbots, auf der anderen Seite der christliche Glaube an die Präsenz und Macht des Bildes, deutlich sichtbar in der Ikonenmalerei.
Es ist unmöglich, Tellers Buch nicht im Zusammenhang dieser Debatte anzuschauen. Aber was zeigt es? Welchen Zugang zu dem in Auschwitz stattgefundenen Ereignis verschafft uns der Überfluss von Bildern? Trotz (oder gerade wegen) des Umfangs lautet die Antwort: Leider wenig. Auf einer der letzten Seiten des Buchs erscheinen als kontrastierender Endpunkt auch die Bilder, die im Sommer 1944 in Auschwitz-Birkenau von Häftlingen des Sonderkommandos aufgenommen wurden, die dafür ein großes Risiko eingingen. Die Häftlinge des Sonderkommandos mussten die Körper der Ermordeten aus den Gaskammern in die Krematorien bringen und wurden als Zeugen des Verbrechens regelmäßig ausgetauscht und dann ermordet.
Ihre Aufnahmen zeigen eine Gruppe nackter Frauen, die wahrscheinlich in die Gaskammer getrieben werden. Ein anderes Foto dokumentiert die Verbrennung übereinander geworfener Leichen. Diese Fotos sind die einzigen, die den Vorgang der Vernichtung in den Gaskammern dokumentieren. Sie können durchaus als die wichtigsten der Geschichte angesehen werden. Paradoxerweise dienen sie, obwohl und gerade weil ihr Wahrheitswert verzerrt wurde – die Negative sind verloren gegangen und die seit 1985 im Museum befindlichen Fotos sind teilweise retuschiert, als ultimatives Zeugnis der Gaskammern. Sie zeigen, was man nicht sehen kann.
Bei Teller sind sie gerahmt an einer Betonwand hängend zu sehen. Sie gehören zu einer Installation von Gerhard Richters Zyklus „Birkenau“. Heubner, dessen Lebensaufgabe es ist, „die Erinnerung wach zu halten“, organisierte auch die Dauerausstellung dieses Zyklus am Ort des Verbrechens. Für „Birkenau“ projizierte Richter die Bilder des Sonderkommandos auf vier große Leinwände und begrub sie unter Schichten pastöser Farbe. Was bedeutet es, „die Erinnerung wach zu halten“? Richters „Birkenau“ hat die vier paradigmatischen und heroischen Fotos aus Auschwitz jenseits von akademischer Forschung und Gedenkstätten ans Licht der Öffentlichkeit gebracht. „Birkenau“ ist ein Schlusspunkt in Richters Werk, aber er eröffnet auch ein Gespräch. Tellers Buch hingegen bleibt eine Sammlung von Fotos, die eine Gedenkstätte abbilden.
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