Weltweiter Rechtspopulismus: Eher Fluss als Welle
Die Wahlniederlage von US-Präsident Donald Trump ist ein weiterer Misserfolg für rechtspopulistische Kräfte im Westen. Ebbt jetzt die Welle ab?
A ls die Chefin des französischen Front National Marine Le Pen im Januar 2017 auf die Bühne des „Europa der Nationen und der Freiheit“-Kongresses in Koblenz trat, hätte man denken können, dort rede eine Kult-Anführerin: „Wir beobachten das Ende der alten Welt und die Geburt einer neuen Welt“, sagte sie. Das Publikum aus Anhänger:innen aller wichtigen europäischen rechtspopulistischen Parteien jubelte. „Es ist eine historische Wende“, sagte Le Pen: Das Ergebnis des Brexit-Referendums und Donald Trumps Erfolg bei der US-Präsidentschaftswahl würden bald eine seismische Welle auslösen, die die Parteien der „alten Welt“ wie Dominosteine stürzen lassen würde.
In den folgenden Monaten ritten antiliberale, Anti-EU-, Anti-Islam-, Anti-Einwanderung-Parteien diese Erfolgswelle. Die AfD zog als erste Partei rechts von CDU/CSU in den Bundestag ein. Kurz danach bildete FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache eine Koalition mit der ÖVP von Sebastian Kurz. Sechs Monate später unterzeichnete Matteo Salvini in Italien einen Regierungsvertrag mit der Fünf-Sterne-Bewegung. Im Frühjahr 2019 waren in acht EU-Mitgliedstaaten Parteien an der Macht, die als rechtspopulistisch gelten.
Die Welle überrollte nicht nur Europa: Innerhalb von drei Jahren schien die Welt von den Philippinen über Indien bis Brasilien auf einmal von populistischen Autokraten dominiert zu sein, die wenig vom Rechtsstaat halten – und noch weniger von Minderheiten, Frauen, LGBTQI-Personen und Andersdenkenden.
Doch dann, einen Tag vor dem zweiten großen Gipfel der europäischen Rechtspopulisten im Mai 2019, meldeten Medien, dass FPÖ-Chef Strache in einen Korruptionsskandal verwickelt war – den berüchtigten Ibiza-Skandal. Kurz danach brach die blau-türkise Regierung in Wien zusammen. Bei der Europawahl schnitten die Nationalpopulisten deutlich schlechter als erwartet ab. Wenige Monate später musste auch Salvini seinen Platz als Innenminister räumen. Jetzt hat auch Trump sein Amt verloren.
Ebbt also die national-populistische Welle ab? Die Frage lasse sich so nicht beantworten, sagte der Politikwissenschaftler Aristotle Kallis. Es mag stimmen, dass rechtspopulistische Kräfte in Europa weniger im Scheinwerferlicht stehen. Das liege allerdings vor allem daran, dass die Pandemie viele ihrer Lieblingsthemen wie etwa Einwanderung und Sicherheit überschattet hat. Man könne aber nicht sagen, dass die Welle abebbt. Weil es vermutlich nie eine Welle gab.
„Wir mögen die Vorstellung, dass die Weltgeschichte von verschiedenen ‚Wellen‘ bestimmt ist: die Welle des Autoritarismus, die Welle der Demokratisierung, die Welle der Globalisierung“, so Kallis. Die Idee würde helfen, Ordnung im Chaos der Weltgeschichte zu schaffen, den Ereignissen eine gewisse Sinnhaftigkeit verleihen, als wären sie Teil eines längeren Prozesses.
Phänomene wie der Aufstieg antiliberaler Parteien in den vergangenen Jahren sind aber keine Welle, die aufbrandet und abebbt. Sie sind eher wie ein Fluss, der durch die Gegenwart fließt und dabei Politik, Institutionen sowie Sprache und Denkmuster prägt, sagt Kallis.
Dieser Einfluss lasse sich nur bedingt anhand von Wahlergebnissen und Umfragewerten messen. Man erkennt ihn eher daran, dass sich die Stichpunkte in den Reden von gemäßigten Politiker:innen – rechts und links – inzwischen kaum von denen von Populisten unterscheiden: Sicherheit, Kriminalität, Grenzkontrollen, Terror.
Die FPÖ mag nicht mehr in Wien regieren, doch ohne ihre Kampagnen gegen Muslim:innen in Österreich wäre nicht denkbar, dass Bundeskanzler Kurz heute davon spricht, den politischen Islam als solchen strafbar zu machen. Und Salvini kann zwar nicht mehr als Innenminister seine Null-Toleranz-Politik gegen Seenotretter im Mittelmeer vorantreiben. Trotzdem werden Schiffe von Seenotrettern nach wie vor von den italienischen Behörden beschlagnahmt.
Jahrgang 1978, ist ein italienischer Journalist, der seit zehn Jahren in Berlin lebt. Er ist Redakteur beim Mediendienst Integration, wo er unter anderem über Asylpolitik und Rechtspopulismus schreibt.
Und auch wenn Trump im Januar das Weiße Haus verlässt, wird er weiter Einfluss auf die US-Politik haben. Seine Versuche, das Wahlsystem zu diskreditieren, wirken: Mehr als die Hälfte der republikanischen Wähler:innen glauben nicht daran, dass die Präsidentschaftswahl korrekt abgelaufen ist – das sind knapp 40 Millionen Menschen.
Trumps verzweifelter Versuch, das Wahlergebnis anzufechten, dient nicht dazu, das Ergebnis zu ändern, sondern dazu, das bestehende Misstrauen gegenüber den demokratischen Institutionen zu verstärken. Wie effektiv diese Strategie ist, kann man in rechtskonservativen sozialen Medien wie Parler beobachten, wo Trump-Anhänger:innen Fotos mit Waffen posten – und dem Hashtag #civilwar.
Die liberale Demokratie, die aus der Asche des Zweiten Weltkriegs hervorging, galt lange als Fels in der Brandung. In den vergangenen Jahren zeigte sie sich fragiler als angenommen. Laut einer Umfrage des Pew Research Center Anfang des Jahres ist die Mehrheit der Bevölkerung in vielen Ländern unzufrieden damit, wie die Demokratie bei ihnen funktioniert. In Italien, Spanien und Großbritannien sind das fast 70 Prozent der Befragten. In Griechenland 75 Prozent.
Diese Unzufriedenheit ist der Nährboden, in dem auch aktuelle Verschwörungsnarrative der Covid-Leugner und Deep-State-Propheten gedeihen. Darin besteht wahrscheinlich die größte Errungenschaft der Rechtspopulisten: dass sehr viele Menschen ihr Vertrauen in das kollektive „Wir“ des demokratischen Staates verloren haben – und zunehmend in eigene Welten flüchten, die ihren Werten, Ängsten und Hoffnungen entsprechen.
Der Rechtspopulismus mag keine Welle sein, die den Felsen der liberalen Demokratie stürzen kann. Er ist eher ein unterirdischer Fluss, der ihre Fundamente allmählich erodiert.
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