Bremensien (4): Der Bleikeller
: Wo Leichen Mumien werden

■ Särge, Sagen und Salpeter: ein Gruselkabinett im Bremer Dom

Bis in die schrägen Abseiten bremischer Geschichte tauchten sechs StudentInnen der Universität – und förderten einige Kuriositäten zutage. In einer kurzen, sechsteiligen Serie „Bremensien“ stellen die KulturwissenschaftlerInnen den LeserInnen der taz ihre Fundstücke vor.

Wer kennt sie nicht, unsere Mumiengesellschaft im Bremer Dom: der Dachdecker, die an der Lustseuche gestorbene Lady Stanhope, der General von Winsen, der zufällig zur gleichen Zeit wie sein Adjutant den Tod fand oder der im Duell erstochene Student. Der Arbeiter Conrad Ehlers wurde laut Beerdigungsregister zur Überprüfung der mumifizierenden Wirkung gar extra im Bleikeller beigesetzt, und der geheimnisvolle Sarkophag mit dem 1730 verstorbenen Bremer Kanzler von Engelbrechten ließ phantastische Geschichten aufblühen.

Der Bleikeller war und bleibt vermutlich ein Phänomen. Die Mumifikation wurde angeblich erstmals vor ca. 500 Jahren entdeckt. Ein Dachdecker vom Domturm zu Tode gestürzt. Er wurde in einem Raum unterhalb des Kirchenchores vergessen und erst Jahre später zufällig entdeckt. Er war völlig mumifiziert und sein Mund stand noch vom letzten Schrei weit offen.

Seit der Bleikeller und seine „Eigenschaft“ um 1698 von dem Orgelbauer Arp Schnittger entdeckt wurde, gibt es eine Vielzahl von verwirrenden Überlieferungen. Ein Reisender aus dem Jahre 1710 schreibt über „... sieben große (Särge) und ein kleines mit einem Kinde“, ein Prediger berichtet ca. 40 Jahre später von fünf Leichen. In dem Volksbuch „Meyer's Universum“ von 1859 ist gar von 30 Särgen die Rede.

Aber auch die Spekulationen um das mumifizierende Klima im Domkeller unterlagen regen Schwankungen. Eine frühe Theorie - schon 1753 notiert - lautet, die Mumifizierung unserer Bleikellerbewohner sei auf Salpeter und nitrosische Ausdünstungen zurückzuführen. Drei Jahre später hieß es, allein der „trockene Ostwind“ trage die Verantwortung. Zwischenzeitlich kursierte das Gerücht, die Mumien seien von Kapuzinermönchen einbalsamiert worden, was sich als unhaltbar erwies. Die Theorie des Predigers Hoppe hielt sich am hartnäckigsten: Er meinte, wenn die bleihaltigen Steine dem Keller seinen Namen gegeben haben, seien sie auch der Grund für die Mumifizierung.

Makabre Geschichten in und um den Bleikeller gibt es etliche. Ein Zeitungsbericht der 70er Jahre wartet mit einer Geschichte auf, nach der ein „Bremischer Kartengruß“ bei seinem süddeutschen Adressaten Empörung darüber hervorrief, vor dem Frühstück den schaurigen Anblick der Mumien ertragen zu müssen.

Bevor die Särge 1965 mit Glasplatten abgedeckt wurden, haben sich souvenirsüchtige TouristInnen gar im Bleikeller bedient: Goethes Sohn bedankte sich 1804 bei einem Bremer Freund seines Vaters für einen Finger aus dem Bleikeller. Auch ein amerikanischer GI schickte einen Finger aus seiner Heimat zurück, der der bestohlenen Leiche wieder angeklebt wurde.

Wilhelm Tacke recherchierte 1985 ausgiebig über Herkunft und Identität der Mumien, da ihn die heilen Knochen des vom Dom gestürzten Dachdeckers irritierten. Eine umfangreiche Röntgenuntersuchung wurde angestrengt. Viele Geschichten mußten daraufhin ins Reich der Phantasie verbannt werden und so manch alte/r Bremerln mußte von bisherigem Wunderglauben Abschied nehmen und den Hauch des Rätselhaften zum Teil begraben.

Die Geschichten und Sagen um den Bleikeller, der in den Medien oft als „Gruselkabinett“ bezeichnet wird, sprechen für sich: Angst haben die Menschen vor dem Unerklärlichen, verdrängen und vergessen wollen sie die mystische Vorstellung, daß sterbliche Überreste Jahrhunderte „überlebt“ haben. Vielleicht ein Grund dafür, daß der Bleikeller mehr von Fremden als von Einheimischen besucht wird. Angelika Gögel/

Claudia Brünner