„Welt“-Reporter und Querdenken: Streit um „Coronaleugner“
Dem „Welt“-Chefreporter Tim Röhn wird vorgeworfen, er verteidige Demos von Verschwörungsideologen. Gegen die Kritik geht er nun juristisch vor.
Stigmatisierung ist ein Lieblingswort von Tim Röhn, Chefreporter der Welt. „Jeder, der gegen eine staatliche Corona-Impfpflicht und massive Grundrechtseingriffe demonstriert, muss ein Coronaleugner und/oder Impfgegner sein“, twitterte er empört im November – es gebe „mittlerweile wenige Menschen, bei denen diese billige Stigmatisierung noch zieht“. Im Dezember erklärte er nach Corona-Protesten in Deutschland, Österreich und Spanien: „Es muss anerkannt werden, dass auch friedliche Bürger protestieren. Pauschale Stigmatisierung als Querdenker/Extremisten geht nicht (mehr).“
Im Januar ging er den Autor dieses Textes auf Twitter an, nachdem der über einen ungenehmigten Coronaleugner-Aufmarsch in Bautzen berichtet hatte, bei dem Hunderte, angeführt von Rechtsradikalen, ohne Masken unterwegs waren und „Frieden, Freiheit, keine Diktatur“ skandierten. Röhn fragte dazu: „Darf ich fragen, warum Sie die Leute pauschal als,Coronaleugner' bezeichnen?“ Und wieder fiel der Begriff der „Stigmatisierung“.
Aber wer sind dann diese Leute, die in Bautzen, Wien und vielen anderen Städten bei Demonstrationen, die als „Spaziergang“ heruntergespielt werden, den Volksaufstand proben, sich den staatlichen Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie widersetzen, wissenschaftliche Fakten leugnen?
Michael Ballweg, der Anführer der Querdenken-Bewegung, betrachtet den Begriff „Coronaleugner“ schon seit 2020 als ehrenrührig und als Kampfbegriff. Wortmeldungen wie die von Röhn unterstützen sein Anliegen. Der Welt-Mann hat in den vergangenen Wochen Widersprüche und Fehler in der Coronapolitik von Bund und Ländern aufgedeckt – und unterstellte etwa Hamburg und Bayern, bei der Ausweisung der Inzidenzen von Ungeimpften mit „unbrauchbaren Zahlen“ zu operieren.
Mit dem Nebeneffekt, dass er damit inzwischen zur Ikone einer rechten Bubble geworden ist, von Boris Reitschuster bis Erika Steinbach, mit AfD-Politiker:innen und, ja, auch Coronaleugner:innen. In den sozialen Medien spenden sie Beifall für den Journalisten. Die Protestierenden sehen sich als „Freiheitskämpfer“, als „Andersdenkende“. Der Streit, ob sie „Coronaleugner“ genannt werden dürfen, bekam Dynamik durch zwei jetzt bekannt gewordene Beschlüsse des Oberlandesgerichts Frankfurt vom Januar (Az. 16 W 41/21 und 16 W 16/21), laut denen der Begriff als Tatsachenbehauptung einzustufen sei und nicht als Meinungsäußerung.
Verschwörungsideologen stellen Musterschreiben ins Netz
Der Rechtsanwalt Ivan Künnemann aus Tangstedt bei Hamburg, der für die „Anwälte für Aufklärung“ auftritt, konnte erstreiten, dass er vom Hamburger Abendblatt nicht so genannt werden darf. Die „Anwälte für Aufklärung“ wiederum schon – sie sprechen auf ihrer Homepage von einer „angeblichen Pandemie“. Zitiert wird in dem OLG-Beschluss aus dem Duden, laut dem ein „Coronaleugner“ eine Person ist, die „die Existenz oder Gefahren der Covid-19-Pandemie leugnet“.
Die Szene trägt die Beschlüsse aus Frankfurt wie eine Monstranz vor sich her. Die „Klagepaten“ haben Musterschreiben ins Netz gestellt: „Bezeichnung,Coronaleugner' jetzt abmahnbar!“ Der Würzburger Anwalt Chan-jo Jun, der sich seit 2020 mit juristischen Fragen rund um die Coronapolitik befasst, ordnet ein: „Ein bisschen was muss man in der Hand haben, um jemand als,Coronaleugner' zu bezeichnen“, sagt er der taz. „Aber die Anforderungen sind extrem niedrig.
Es könnte schon reichen,,Pandemie' in Anführungszeichen zu setzen. Oder eine Abweichung von der wissenschaftlichen Tatsachenbasis hinsichtlich der Gefahren.“ Die Existenz des Virus muss nicht in Gänze bestritten werden, um als „Coronaleugner“ zu gelten – es geht auch um die Relativierung.
Welt-Reporter Röhn wollte nicht auf sich sitzen lassen, dass der SPD-Politiker Igor Matviyets aus Halle/Saale in einem (inzwischen gelöschten) Tweet forderte: „Irgendjemand muss bitte einen Bericht darüber schreiben“, dass Tim Röhn angefangen habe, gewalttätige Demos von rechten Verschwörungstheoretikern zu verteidigen.
Röhn ging juristisch dagegen vor, nahm sich einen Anwalt, der selbst Maßnahmenkritiker ist – dieser schickte in seinem Auftrag ein Abmahnschreiben an Matviyets. Matviyets bemühte sich um ein Telefonat mit dem Reporter, Röhn aber verwies an seinen Anwalt.
Vor dem Landgericht Hamburg (Az. 324 O 24/22) hatte er im Februar mit einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung Erfolg. Das Gericht entschied, für die Meinungsäußerung von Matviyets fehle es „an hinreichenden Anknüpfungstatsachen“.
Der Anwalt von Matviyets, Alexander Hoffmann, sagt: „Diejenigen, die am lautesten,Meinungsfreiheit' schreien, verklagen die anderen. Es ist einfach widerlich.“
Hinweis der Redaktion / Richtigstellung: In einer früheren Version des Textes hieß es: ,,Röhn (…) nahm sich einen Anwalt, (…) dieser schickte (…) ein Abmahnschreiben an Matviyets. Eine außergerichtliche Einigung lehnte Röhn ab.“ Das möchten wir hiermit richtigstellen: Welt-Chefreporter Tim Röhn lehnte eine außergerichtliche Einigung nicht ab. Das Abmahnschreiben enthielt ein Angebot für eine außergerichtliche Einigung, das Matviyets nicht annahm. (taz)
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