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Wein, Weinen, Weihnachten

Im Westfälischen entging ich als Letztgeborene dem üblichen Trottel-Schicksal dieser katholischen Gegenden. Die Jüngsten – ob des bigotten Gebärzwangs oft etwas zurückgeblieben, wobei notfalls ein Löffel Schnaps täglich weiterhalf – waren in der Regel verplant für Stallarbeiten, die nur ein Depp ohne Murren erledigt. Doch war mein Elternhaus kein Bauernhof, sondern ein kleiner Handwerkerbetrieb. Und am Heiligabend saß die Familie mit den nicht verwandten oder verschwägerten Meistern und Gesellen beisammen. Wenn der Kuchen gegessen war und der Lehrling, wie das damals hieß, sein obligatorisches Weihnachtsgedicht aufgesagt hatte, wurde Sekt und süßer Wein aufgetischt – von sowas wie Glykol wußte man ja nichts.

So kam ich – gerade eingeschult – an einem Heiligabend zu meinem ersten Rausch. Rote Bäckchen und albernes Kichern erhöhten noch die aufgeregte Erwartung vor der Bescherung. Doch bis die begann, war die Kiekserei längst ins große Schwindelgefühl umgekippt. Die Baumkerzen tanzten seltsam herum, die Bändchen an den Geschenken verselbständigten sich, und kaum war alles ausgepackt, überfiel mich das heulende Elend.

Mama packte mich ins Bett, Heiligabend war gelaufen, und ich bekam nicht mehr mit, wie sich die Eltern und die beiden großen Schwestern – wie in den folgenden Jahren – wegen ihrer enttäuschten, weil viel zu hoch gesteckten Hoffnungen auf Friede, Freude, Eierkuchen betranken.

Monika Filter

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