Finstere und märchenhafte Facetten skandinavischer Dramatik am Thalia : Weihnachtstheater auf Nordisch
Vermutlich ist die jahrzehntelange, frühe Astrid-Lindgren-Berieselung schuld. Die nicht nur die Sommer – Pippi Langstrumpf & Co. –, sondern auch die Vorweihnachts-Herbste und -Winter prägte und Empfindungen des Michel aus Lönneberga und der Madita zum fest gefrästen Klischee werden ließ.
Vielleicht sentimentalt der Bewohner von Feucht-Kontinentaldeutschland auch recht übertrieben vor sich hin, wenn er sich pünktlich zur Weihnacht in schneebedeckte, adrettfarbige norwegische Holzhäuschen wünscht. Jedenfalls ist es, unter diesen Vorzeichen betrachtet, nicht ganz abwegig, über Weihnachten im Theater, zum Beispiel im Thalia, viel Skandinavisches zu zeigen – nicht nur in seiner märchenhaften Facette allerdings, sondern auch in seiner düsteren. Igor Bauersimas norway.today wird zum Beispiel auf dem Programm stehen, jenes düstere Zwei-Personen-Drama, das auf einem authentischen Doppelselbstmord basiert, den vor Jahren ein Norweger und eine Österreicherin begingen: Von einem norwegischen Hochplateau wollen sich in norway.today die beiden stürzen, nicht ohne zuvor noch Lebewohl-Videos aufzunehmen, um eines gebührenden Abgangs sicher zu sein.
Allein – genau dort beginnt die Schwierigkeit: Authentisch Abschied vom Leben zu nehmen erweist sich als unüberwindliche Hürde; die immer wieder hergesagten, teilvariierten Abschieds-Sprüche wirken künstlich allesamt. Oder sind sie echter, als es ein Live-Abschied wäre? Nach etlichen Wiederholungsschleifen sind sich die beiden ProtagonistInnen – Julie (Anne Blomeier) und August (Jörg Kleemann) nicht mehr sicher. Und als Julie gar versehentlich vom Fels stürzt, will sie doch tatsächlich gerettet werden; war wohl doch noch nicht ausgereift, der Plan.
Das Changieren zwischen „live“ erlebter und per Video erschaffener Realität prägt das Stück des 1964 in Prag geborenen, in der Schweiz aufgewachsenen Autors, der 2001 bei den Mülheimer Theatertagen den Publikumspreis bekam. Und dass das Paar sich schließlich, inspiriert vom Polarlicht, zum Weiterleben entschließt, weil es, so August, „vom Glück getroffen wurde“, ist nach all diesen Dramen ein wenig sentimental und vermutlich dazu angetan, den Zuschauer vom Abgrund des entgültigen Abschieds von den Figuren zurückzureißen. Was aber wohl nicht nötig wäre.
Andererseits: in Stefan Kimmigs Inszenierung von Thomas Vinterbergs Das Fest (Foto: Arno Declair), frei nach dem Dogma-Film von 1977, brechen alsbald neue Abgründe auf: solche von eminent Ibsen‘scher Qualität, erwachsend aus scheinbar harmlosen familiären Begegnungen und insofern der Weihnachtszeit optimal angepasst. Der Zwillingsbruder der jahrelang vom Vater vergewaltigten, inzwischen verstorbenen Linda nämlich sprengt aufs Gründlichste die Geburtstagsfeier zu seines Vaters 60., zu dem sich von allüberall Blutsverwandte eingefunden haben; Wahlverwandtschaft buchstabiert sich anders.
Schritt für Schritt pirscht sich Christian an die von allen Anwesenden verdrängten bzw. verleugneten Vorfälle heran; die damals angeblich nichts ahnende, tatenlose Mutter ist Teil des Spiels. Und natürlich der tiefe Fall des Vaters, inzwischen erfolgreicher Geschäftsmann, dessen Verbalschorf im Lauf des Abends so weit abgedeckt wird, dass er sich schließlich zur Vergewaltigung der Zwillinge bekennt mit den Worten: „Ihr wart nicht mehr wert.“ Die letzten Sätze eines Fallenden, der den letzten Kampf doch noch verlor und sich von Fest, Familie und Sohn Christian verabschiedet mit der Sentenz: „Gut gekämpft, Löwe.“ Triumph stellt sich trotzdem nicht ein in der folgenden tödlichen Stille.
Wer all dies vermeiden und stattdessen den Schritt in an Kinderzeit erinnernde Sentimentalität wagen will, vielleicht gar in die Region des Märchens flüchten, das der Realität dann doch nicht so fern ist, der finde sich in Christian Schlüters Inszenierung von Ronja Räubertochter ein, Astrid Lindgrens wildester Mädchenfigur, die für Erwachsenwerden und das Hadern der Umgebung mit einem modifizierten Rollenverhalten steht. Furchtlos und neugierig arbeitet sich Ronja zu den gefährlichen Borkaräubern vor, freundet sich gar mit Birk, dem Enkel des ehemaligen Erzfeindes der Familie an. Aber das hätte wohl nicht gehalten, hätten nicht wohlmeinende Familienmitglieder eingegriffen. Und wäre Schlüters Ronja (Claudia Renner) nicht einen Hauch zu timid – die Inszenierung käme noch authentischer, frischer und provokativer daher. Aber diese Zurechtstutzung der Protagonistin musste wohl sein als Zugeständnis an Ängste der Umstehenden vor der erstarkenden Frau. PETRA SCHELLEN
Ronja Räubertochter: Do, 25.12., 15 Uhr, Thalia. Das Fest: Fr, 26.12., 20 Uhr, Thalia; norway.today: So, 28.12., 19 Uhr, Thalia Gaußstraße