Weibliche Genitalverstümmelung: Klitoris ab, Schamlippen zugenäht

In Deutschland leben mehr als 70.000 genitalverstümmelte Mädchen und Frauen. Und die Zahl steigt, so eine Studie der Organisation Terre des Femmes.

Frau zeigt auf eine projezierte Statistik

Erschreckend hohe Zahlen: Dunkelzifferstatistik zur Genitalverstümmelung vorgestellt in Berlin Foto: dpa

BERLIN taz | Die Dimension ist enorm: Mehr als 70.000 von Genitalverstümmelung betroffene Frauen und Mädchen leben in Deutschland. Zudem sind knapp 18.000 Mädchen davon bedroht, beschnitten zu werden. Das geht aus einer Dunkelzifferstatistik hervor, die von der Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes am Mittwoch in Berlin vorgestellt wurde. „Weibliche Genitalverstümmelung ist eine schwere Menschenrechtsverletzung, die in unserer Nachbarschaft unmittelbar präsent ist“, sagte die Geschäftsführerin von Terre des Femmes, Christa Stolle.

Bei weiblicher Genitalverstümmelung kann je nach Art des Eingriffs die Klitoris ganz oder teilweise weggeschnitten werden, ebenso die inneren und äußeren Schamlippen. Zum Teil wird auch die Vaginalöffnung verengt, indem die äußeren Schamlippen zusammengenäht werden. Die Mädchen, meist im Alter zwischen 0 und 15 Jahren, sind dabei oft bei vollem Bewusstsein, was zu Schockzuständen und Traumata führen kann. Tödlich verlaufende Infektionen kommen vor. Urinieren kann infolge der Verstümmelung schmerzhaft und langwierig sein, ganz zu schweigen von den Schmerzen beim Sex oder beim Gebären.

Zwar seien bislang keine Fälle bekannt, in denen Mädchen auch in Deutschland verstümmelt wurden. Aber Familien würden „Beschneidungsreisen“ entweder innerhalb Europas, beispielsweise nach Frankreich, oder auch ins außereuropäische Ausland unternehmen, so Terre des Femmes. Zum Teil würden die Verstümmelungen durch traditionelle Beschneiderinnen vorgenommen, in den vergangenen Jahren aber auch verstärkt in sterilem Setting durch medizinisches Fachpersonal.

Terre des Femmes koordiniert seit 2013 EU-geförderte Projekte gegen weibliche Genitalverstümmelung und veröffentlicht jährlich Dunkelzifferstatistiken über die Anzahl von Betroffenen in Deutschland. Zugrunde gelegt werden die Raten von Betroffenen aus den Herkunftsländern, die zumeist auf Studien der Weltgesundheitsorganisation WHO oder des UN-Kinderhilfswerks Unicef basieren. So sind beispielsweise in Eritrea 83 Prozent der im Land lebenden Mädchen und Frauen beschnitten, in Indonesien knapp 90 Prozent. In Deutschland leben deshalb vermutlich mindestens 13.886 Betroffene aus Eritrea und 9.605 Betroffene aus Indonesien. Differenziert wird in den Statistiken nach dem Alter der Mädchen und Frauen sowie nach der Dauer, die die Familie bereits in Deutschland lebt: Die Gefahr, beschnitten zu werden, sinkt sowohl mit einem Alter von über 18 als auch mit der Dauer des Aufenthalts.

Die Zahlen steigen

Dennoch steigt die Zahl der Betroffenen in Deutschland seit Jahren. Im Vergleich zu 2016 etwa habe sich die Anzahl der Mädchen, die von Verstümmelung bedroht sind, fast verdoppelt, so Terre-des-Femmes-Referentin Charlotte Weill. Das liege daran, dass es aus bestimmten, stark betroffenen Ländern wie Somalia oder Eritrea verstärkt Migration gegeben habe. Dabei ist weibliche Genitalverstümmelung zwar faktisch ein Asylgrund. „Aber in der Realität kommt das leider oft nicht zum Tragen“, sagte Weill. Zum einen, weil es vonseiten der Behörden in den Anhörungen nicht zur Sprache gebracht werde – zum anderen, weil die betroffenen Mädchen und Frauen es auch selbst nicht zur Sprache bringen. „Das Thema ist ein enormes Tabu“, so Weill.

Um das aufzubrechen und weibliche Genitalverstümmelung langfristig zu beenden, arbeitet Terre des Femmes mit MultiplikatorInnen aus den jeweiligen Communitys zusammen. Im Projekt „Let’s Change“ etwa, das vor einem Jahr ins Leben gerufen wurde und von der EU gefördert wird, bauen insgesamt 400 MultiplikatorInnen in Deutschland, den Niederlanden, Großbritannien und Schweden Kontakt sowohl zu Betroffenen als auch zu Fachpersonal auf, um über die Folgen von Genitalverstümmelung aufzuklären. „Durch Freundinnen, die selbst betroffen sind, bin ich schon lange Aktivistin“, sagt etwa Colette Tchoumbou, die aus Kamerun kommt und seit 1997 in Deutschland lebt.

Für Terre des Femmes schaffe sie nun durch Filmabende oder Themenrunden zu Kindererziehung zunächst Vertrauen in den Communitys. Oft brauche sie DolmetscherInnen, oft müssten die Veranstaltungen geschlechtergetrennt stattfinden, und oft dauere der Prozess, bis überhaupt über das Thema gesprochen werden könne, sehr lange. Die Art und Weise des Vorgehens aber wirke: „Für Terre des Femmes bin ich eine Brücke in die Communitys“, sagt Tchoumbou. Zudem schule sie bundesweit ÄrztInnen oder Hebammen und bespreche zum Beispiel, wohin sich eine Lehrerin wenden kann, sollte sie eine drohende Verstümmelung vermuten.

Die Erfahrungen aus dem Projekt seien gut, sagt Referentin Weill – doch es läuft nächstes Jahr aus. Da die Arbeit aber langfristig angelegt sei, „muss es auf jeden Fall weitergehen“, fordert sie.

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