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Weibliche GenitalverstümmelungWissenslücken und Tabus

Patricia Hecht
Kommentar von Patricia Hecht

LehrerInnen oder Hebammen müssen schon in der Ausbildung über Dimension und Bedeutung weiblicher Verstümmelung geschult werden.

Großer Schmerz: Ein Mädchen weint nach der Beschneidung Foto: reuters

D ie Feststellung ist so schlicht wie entsetzlich: Weibliche Genitalverstümmelung ist kein Phänomen, das vereinzelt in ein paar weit entfernten Ländern passiert. Sondern eines, das Mädchen und Frauen in vermutlich jeder deutschen Großstadt betrifft. Mehr als 70.000 genitalverstümmelte Frauen leben in Deutschland, knapp 18.000 hierzulande lebende Mädchen sind davon bedroht.

Und dennoch läuft die schwere Menschenrechtsverletzung weitgehend unter dem Radar der Öffentlichkeit. Zum einen, weil das Thema in den betroffenen Diaspora-Communitys ein enormes Tabu ist. Und zum anderen, weil auch bei AnsprechpartnerInnen in Deutschland große Wissenslücken bestehen: LehrerInnen, ÄrztInnen, PolizistInnen oder Hebammen sind selten darin geschult, mit genitalverstümmelten Frauen respektvoll und medizinisch angemessen umzugehen und bedrohte Mädchen vor dem grausamen Ritual zu schützen.

Der Ansatz der Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes, mit MultiplikatorInnen aus den Communitys zu arbeiten, um sowohl diese als auch die AnsprechpartnerInnen in Deutschland über die Eingriffe und deren Folgen aufzuklären, erscheint daher naheliegend. Dennoch sollte sich die Bundesregierung nicht darauf ausruhen, dass Nichtregierungsorganisationen die Arbeit übernehmen, den betroffenen Mädchen und Frauen den Alltag zu erleichtern oder sie vor drohender Verstümmelung zu schützen. Auch der deutsche Staat steht hier in der Pflicht.

So braucht es mehr Geld, um Aufklärungsprojekte langfristig zu sichern. Zudem müssen LehrerInnen oder Hebammen schon in der Ausbildung über Dimension und Bedeutung weiblicher Verstümmelung geschult werden. Und schließlich gilt dasselbe für die Justiz: Denn bislang werden drohende Verstümmelungen als Asylgrund oft mit der Begründung abgelehnt, in einer anderen Region ihres Heimatlandes seien die Mädchen ja geschützt – doch das ist selten der Fall. Weibliche Genitalverstümmelung ist als geschlechtsspezifischer Asylgrund anerkannt. Als solcher muss er in der Realität auch greifen.

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Patricia Hecht
Redakteurin Inland
war Chefin vom Dienst in der Berlinredaktion, hat die Seite Eins gemacht und arbeitet jetzt als Redakteurin für Geschlechterpolitik im Inland. 2019 erschien von ihr (mit M. Gürgen, S. am Orde, C. Jakob und N. Horaczek) "Angriff auf Europa - die Internationale des Rechtspopulismus" im Ch. Links Verlag. Im März 2022 erschien mit Gesine Agena und Dinah Riese "Selbstbestimmt. Für reproduktive Rechte" im Verlag Klaus Wagenbach.
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3 Kommentare

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  • Kulturrelativisten wie Kavita Shah Arora und Allan J Jacobs kämpfen dafür, die WHO-Klassifikation zur weiblichen Genitalverstümmelung oder Female Genital Mutilation (FGM) zu zerspalten in einen weiterhin verbotenen und einen ihrer Meinung nach zeitnah straffrei zu stellenden Teil. Das ist unbedingt zu verhindern; alle vier Typen der weiblichen Genitalverstümmelung, das ist FGM Typ I, II, III, IV, müssen verboten bleiben.

    Also darf auch die De-minimis-FGM (arabisch: chitan al-inath, indonesisch: sunat perempuan, malaysisch khitan wanita), beispielsweise als die sogenannte milde Sunna (d. i. eine FGM Typ Ia oder gehört, als pinprick bzw. ritual nick, in den Bereich einer FGM IV), nicht erlaubt werden.

  • 8G
    85198 (Profil gelöscht)

    Genitalverstümmlung ist ein schweres Verbrechen. Egal bei welchem Geschlecht.



    Niemand darf wegen seines/ihres Geschlechtes diskrimiert werden. Dieser Text tut aber genau das, wenn er das Recht der Religion auf den weiblichen Körper bedingungslos negiert, das gleiche Recht aber in Bezug auf Männer völlig verschweigt und damit komplett entproblematisiert. Sexistischer Antisexismus?

    • 8G
      85198 (Profil gelöscht)
      @85198 (Profil gelöscht):

      Der Text hat außerdem - nach einem queer-feministischen Verständnis - noch nicht einmal alle Frauen im Blick:



      Wenn hier von "weiblicher Genitalverstümmlung" die Rede ist, dann sind damit cis-Frauen und höchstens noch Trans-Männer gemeint. Trans-Frauen (und intersexuelle Menschen) sind dabei ausgenommen. Derweil wird Trans-Frauen bei einer Genitalverstümmlung ("Beschneidung") in der Kindheit die Möglichkeit genommen, dass aus der (entfernten) Vorhaut einmal operativ Schamlippen geformt werden. Wenn die empfindlichsten Teile des Gliedes entfernt worden sind, macht die Verwendung des Restes nur noch sehr begrenzt Sinn.

      Was wäre los in den westlichen Gesellschaften, wenn Männer darüber schwadronieren würden, dass der Sex mit beschnittenen Frauen besser sei als mit unbeschnittenen? Wenn Frauen sich beschneiden ließen, damit ihre Genitalien abstumpfen und sie deswegen dann beim Sex länger können? Wenn in fast jedem Porno beschnittene Frauen aufträten, damit die Clitoris größer wirkt?

      Wenn die Genitalverstümmlung gegenüber Männer entproblematisiert wird, ist es dann nicht naiv zu denken, dass sie bei Frauen ganz aufhört. Sowas geht höchstens in einer autoritären religiösen Gesellschaft.

      Ist es nicht schon Doppeldenk und ein schwerer Fall von Narzismus, einerseits für Gleichberechtigung und Geschlechtergleichstellung einzutreten, andererseits aber das Recht von Religiösen Eltern unangetastet zu lassen, ganz dezidiert diejenigen ihrer Kinder zu verstümmeln, die ein Glied aufweisen?