: Wechselwirkungen
Eine für alle – alle für eine. Vor zehn Jahren trat die Wirtschafts- und Währungsunion in Kraft, wichtigster Schritt zur politischen Einheit der beiden deutschen Staaten, radikaler Wechsel für viele DDR-Bürger. Und eine Geschichte von subjektivem Gewinn und Verlust
von NICK REIMER
Dichtes Geäst, ein schweres Tor, Stacheldraht. Sonst nichts. Nicht der Hauch einer Spur. Kein Weiterkommen. Obendrein war der Regen wieder stärker geworden, eine Erkältung schien unausweichlich. Verrückte Idee, hierherzukommen, ärgerte sich Liebwein. Was hatte die Redaktion denn erwartet? Dass es hier Begrüßungsgeld gibt, diesmal in Ost?
Liebweins Irrfahrt begann bei einer Redaktionskonferenz. Was will man lesen, wenn sich zum zehnten Mal die deutsche Wirtschafts- und Währungsunion jährt? Bringt das was, der Blick zurück? Überwiegend beifälliges Nicken. Jemand rief: „Unbedingt!“ Also Ideen bitte! Stirnrunzeln. Kreative Pause. „Was ist eigentlich aus den alten DDR-Geldscheinen geworden?“, fragte schließlich eine. Reflexhaft fast drehten sich die Köpfe zu Liebwein, dem einzigen gelernten DDR-Bürger in der Runde. Halt, Leute, stopp! Wieso denn ich? Ich lebe mit dem Westgeld sehr zufrieden. Ostknete? Ich weiß nichts, ich will gar nichts wissen, ist mir auch völlig schnurz. Liebweins Ahnungslosigkeit wurde mit schwerer Missbilligung gestraft – Ossi und weiß nicht, wo sein Geld geblieben ist! Nach einer, wie ihm schien, unendlich langen Zeit peinlichen Schweigens wurde Liebwein schließlich begnadigt, mit einem Rechercheauftrag. Ausgerechnet Ostgeld, stöhnte Liebwein. Ostgeld, das Synonym für realsozialistische Mangelwirtschaft – als ob es nicht reichte, damit ein Vierteljahrhundert gestraft gewesen zu sein.
„Zucker ist alle?“ oder „Klopapier gibt es nicht?“ – Liebwein erinnerte sich einer speziellen Fragetechnik, mit der es ihm gewöhnlich gelungen war, den Verkäuferinnen ihr triumphales „Hammwernich“ zu vergällen. In den letzten Wochen vor dem großen Geldwechsel hatte es auf derlei Fragen immer häufiger Bestätigungen gehagelt: Die Geschäfte waren radikaler leer gefegt als jemals zuvor. Es hatte praktisch nichts mehr gegeben. Scheuermittel, Fahrradspeichen, Mehl oder Betttücher – Hausfrauen hatten genauso gehortet wie die Läden; die einen, weil sie heute noch fürs ungeliebte Ostgeld kaufen, die anderen weil sie morgen für geheiligtes Westgeld verkaufen konnten. So hatte Liebwein die letzten vierzehn Tage vor dem großen Geldwechsel ohne Rahmbutter, Klopapier und Riesaer Eierteigwaren auskommen müssen.
Danach allerdings auch. Denn nach dem großen Geldwechsel fand er in seinem Konsum weder Möhren noch Jogurt oder Margarine – statt Käse gab es plötzlich eine Käsetheke, im Brotregal türmten sich gleich fünfzehn verschiedene Sorten, und seine gewohnte Frage „Saft ist aus?“ wurde nun mit einem „Welchen wollen Sie denn?“ gekontert.
Das war zu viel. Auf so grundlegende Veränderungen war Liebwein nicht vorbereitet. Panisch war er aus dem Laden gestürzt. – Es dauerte eine Weile, bis er umdenken, auswählen, seine Fragetechnik den westdeutschen Gegebenheiten anpassen gelernt hatte. Noch Jahre später rutschte ihm manchmal ein „Haben sie Saft?“ heraus, was zweifelsfrei seine Herkunft verriet.
Wo um alles in der Welt ist also dies Ostgeld geblieben? Ein Tipp half weiter. Er hieß Komorsky oder nannte sich so, jedenfalls redete ihn Liebwein so an: Herr Komorsky. Genosse Generalmajor schien Liebwein – obwohl es doch um Ostgeld ging – nicht angebracht. „Unser Geld“, raunte der ehemalige Stasi-Offizier vertraulich, „liegt in einem Schacht bei Halberstadt.“
Komorsky, dessen müde Augen bei dem Thema zu leuchten begannen, wusste einfach alles: Zuerst stand nur Deutschland auf den DDR-Münzen, ehe die Währung dann DMdDN hieß – Deutsche Mark der Deutschen Notenbank. Triumphierend holte Komorsky ein Gesetzblatt vom 7. November 1953 aus dem Schrank, das den Gegenwert der DMdDN mit 0,399902 Gramm Feingold festlegte. Die Westmark hatte nur einen Gegenwert von 0,2428 Gramm – für Komorsky der eindeutige Beleg, dass „unser Geld mehr wert war“. In den Sechzigerjahren wurde die Bezeichnung MDN eingeführt – Mark der Deutschen Notenbank –, die so lange gültig blieb, bis den roten Bankern wohl selbst auffiel, dass „Haste mal ’ne MDN?“ kindisch klingt. Ab Ende der Sechziger hieß das DDR-Geld so schlicht wie es war: Mark.
Kurz vor Leipzig blieb der ICE stehen. Technische Panne, sagte der Zugchef an und dankte „für Ihr Verständnis“. Liebwein würde zu spät kommen, so wie im Osten. Nur dass heute das Zugpersonal die Verspätung seminargeschult rhetorisch freundlicher vermittelte. Liebwein ging in den Mitropa-Wagen, der noch immer so hieß wie vor der Vereinigung, und bestellte Bier. Früher kostete das kleine 61 Pfennig. Wohlgemerkt in Ost. Liebwein zahlte fünf Mark West und war eigentlich doch ganz froh: Umgetauscht zum offiziellen Geldwechselkurs von 1:2, hätte er für dieses Westbier vormals glatt 16 kleine Ostbiere bekommen. Was mit Sicherheit das Ende seiner Recherche bedeutet hätte.
Aber was heißt hier Recherche? Immer mehr Erinnerungsfetzen krochen aus seinem Hinterstübchen. Langsam dämmerte Liebwein, dass der Zug nach Halberstadt immer tiefer in seine Vergangenheit fuhr. Gedankenverloren kramte er eine Banane aus seiner Brotkapsel und spielte damit herum: Vor lauter Bananenessen habe ich glatt vergessen, wie Bananen schmecken. Diese Verheißung von Kerzenschein, Tannenbaum und Stollen. In der DDR schmeckten Bananen nach Weihnachten. Denn nur dann konnte man mit Glück ein Kilogramm erstehen. Meist schickte ihn die Mutter los, wenn sie bereits stolz ihre Beute aus dem Einkaufsnetz geschält hatte, die Familienquote aufzubessern: Es gab abgezählte fünf Bananen pro Kopf, egal wie groß der Kopf war.
Liebwein fiel ein, wie er sich in der Schlange auzurechnen suchte, ob es noch reicht für ihn – mit zunehmender Hoffnung, je mehr die Hoffnung schwand. Zwar kam er mit jedem Schritt nach vorn dem Ziel Bananenkiste näher. Mit jedem Schritt leerte sich die Kiste aber auch. Wieder und wieder reckte er den Hals, um abzuschätzen, ob der Kisteninhalt bis zum großen Auftritt das Versprechen hielt: Einmal Bananen bitte. Meistens wurde das Versprechen gebrochen.
Liebwein wischte die Erinnerungen weg. Alles Quatsch, ein Stück Leben geht, ein neues kommt, das ist der Lauf der Welt. Und jetzt gehört es eben dazu, dass Bananen im Sonderangebot sich zwischen Kiwis, Honigmelonen oder Ananas lümmeln. Wohnungsmarkt statt Wohnungsamt, Bayerischer statt Böhmerwald, Toyota statt Trabant. Und nichts ist mehr unmöglich. Was für ein wundervolles Leben!
Eine Stunde später als verabredet traf Liebwein in Halberstadt ein. „Ostgeld?“, fragte Frau Hommel vom Städtischen Ordnungsamt. „Warum schreiben Sie nicht mal was über unseren neuen Neigezug?“ Weil der vierzig Minuten Verspätung hatte, dachte Liebwein, wollte aber nicht unhöflich sein. „Ich soll den Westdeutschen erklären, wie ihr Geld unser Leben verändert hat.“
Frau Hommel, die schon im vorigen Leben hier im Rathaus arbeitete, hielt die Idee für ganz und gar absurd. Was soll sich schon geändert haben? Jetzt zum Beispiel ist Mittagspause. So wie damals. Liebwein wurde unruhig. Vielleicht hat die Frau ja Recht? Was, wenn sich wirklich nur die Farbe der Scheine geändert hätte? Was sollte er der Redaktion erzählen? Er will doch nicht mit leeren Händen kommen: Der Ossi hat schon wieder nichts zuwege gebracht!
Immerhin blieb die Mazdageschichte. In den Achtzigerjahren importierte die DDR einige zehntausend Westwagen, um sie ihren Bürgern für schwindelerregende Summen zu verkaufen. Kaufkraftabschöpfung nannte sich das. Die regierenden Kommunisten suchten den gravierenden Geldüberhang mangels ausreichender Waren abzubauen.
Oder er könnte die Geschichte der Forumschecks erzählen, die Ende der Siebzigerjahre als Zahlungsmittel eingeführt wurden. Aus Angst, dass der DDR-Bürger sein Zimmer in Prag etwa mit Westgeld bezahlt – die rare Valuta des nichtsozialistischen Auslandes sollte schließlich im eigenen kleinen Land bleiben –, durften seither in den Intershops Westwaren nicht mehr mit Westgeld bezahlt werden. Man musste es vor dem Einkauf erst gegen das Forumgeld eintauschen.
Nein, die Scheckgeschichte besser nicht. Womöglich kommt jemand in der Redaktion noch auf die Idee, zu fragen, wo das Forumgeld geblieben ist. Eine Begnadigung reichte Liebwein. Er versuchte, einen Anflug von Panik zu verscheuchen.
Immerhin könnte er – Komorsky sei Dank – mit Zahlen hantieren. Das durchschnittliche Nettoeinkommen der DDR-Deutschen betrug vierzig Prozent des Einkommens eines bundesdeutschen Facharbeiters. Oder: Das in 25 Jahren angesparte Geld seiner Eltern entsprach nach dem Wechsel noch anderthalbmal dem, was sein Vater heute monatlich verdient. Aber ob sich die Redaktion damit zufrieden geben würde?
„Geduld“, sagte Frau Hommel und steckte den Löffel in eine Dreiminutenterrine. „Ich erkläre Ihnen gleich, wie Sie zum Geldschacht kommen.“ Liebwein versuchte, sich an Tütennudelsuppen zu erinnern. Noch während seiner Studentenzeit war es dem Duft von köchelnder Tütennudelsuppe gelungen, ihn an den kleinen Fluss zu entführen, den er mit dem Vater wahlweise angestaut oder umgeleitet hatte. Immer samstags hatte Vater Küchendienst. Stets hatte es Osttütennudelsuppen gegeben. Ein Spritzer Erwa-Küchenwürze hier, ein bisschen von Mutters Chutney da – und manchmal war sogar ein Spritzer Bautzener Ketchup drangekommen, den die Großmutter in Berlin – Hauptstadt der DDR – ergattert hatte. In all den Jahren hatte sein Vater höchste Perfektion im Tütennudelsuppenkochen erlangt. Mehr noch als im anschließenden Dammbau.
Ein Stück Leben geht, ein neues kommt, das ist der Lauf der Welt. Nur dass es im DDR-deutschen Fall gar zu plötzlich, gar zu abrupt, gar zu gründlich passierte. Es waren nicht die Demonstrationszüge, nicht die freien Wahlen, es war weder die Stasi-Vertreibung noch der Beitritt zu einem anderen Staat, was die Ostdeutschen entwurzelte. Es war der Verlust von Osttütennudelsuppen. Genau genommen, dachte Liebwein, ist meine Identität auf dem Grund einer Osttütennudelsuppe versunken. Es war vom einen Tag auf den anderen praktisch nicht mehr möglich, die Suppe von gestern auszulöffeln. Mit dem neuen Westgeld verschwanden auch die volkseigenen Tütennudelsuppenproduzenten. Maggi? Ich bitte Sie! Maggi schmeckt nach gewechseltem Geld, aber nicht nach Kindheit.
Es regnete noch immer. Liebwein war den acht Kilometer langen, doppelten und stacheldrahtverstärkten Zaun um die Schachtanlage abgelaufen. Nirgends ein Schlupfwinkel, gesichert wie Fort Knox. Unmöglich konnte er ohne Bericht in die Redaktion kommen. Es blieb ihm keine andere Wahl. Er musste über das Tor steigen.
Als Liebwein auf der Oberkante saß, fletschte unten ein knappes Dutzend Hunde die Zähne. Liebwein blieb ganz ruhig sitzen. Er dachte: Wenn ich vor zehn Jahren jemandem erzählt hätte, dass ich wegen der Ostpiepen einmal so einen Aufstand machen würde, wäre ich glatt eingeliefert worden.
Damals, am 30. Juni 1990, hatten sich die Menschen seiner sächsischen Heimatstadt schon um Mitternacht geduldig vor der Sparkasse eingereiht, um beim großen Geldwechsel möglichst weit vorn zu stehen. An diesem Morgen begann das Paradies. Und womöglich waren schon am Mittag die Eintrittskarten alle. Video, aufblasbare Sessel, Fernseher und Kühlschrank – seine Nachbarn schafften es binnen drei Tagen, ihr gesamtes Geld auf den Kopf zu hauen. Was macht das schon im Paradies. Der erste Kredit war fünftausend Mark schwer, der zweite nur noch halb so viel. Ein Vierteljahr später verloren beide ihren Job.
Noch immer saß Liebwein reglos auf der Kante des Tors. Auf der einen Seite die Hunde, auf der anderen die Redaktion. Ostgeld hier, Westleben da. Er konnte sich nicht entscheiden. Liebwein schickte ein Stoßgebet zum Himmel. Und da – erstmals an diesem Tag zeigte das Schicksal Mitleid – sendete ihm der Himmel ein Zeichen. Es hörte auf zu regnen.
NICK REIMER, 33, lebt als Korrespondent der taz in Dresden. Sein letztes Ostgeld setzte er in eine Flasche bulgarischen Cabernet um
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