piwik no script img

Wassili-Grossman-Roman erscheint neuIm Jahrhundert der Wölfe

Kommentar von Manuel Karasek

Grossmans "Leben und Schicksal" ist erstmals komplett auf Deutsch erschienen. Der Roman entwirft ein Historienpanorama rund um die Schlacht bei Stalingrad.

Das unsentimentale Epos zeichnet ein sehr plastisches Bild einer der größten Schlachten.des 2. Weltkriegs. Bild: dpa

I m Frühjahr 1942, ein Jahr nach dem Überfall der Wehrmacht auf Stalins Riesenreich, wird der SS-Führung klar, dass die Ermordung der ukrainischen Juden durch Schusswaffengebrauch mit anschließender Verscharrung einen erheblichen Nachteil in sich birgt. Die zahlreichen grauen Erdhügel zwischen Lemberg und der Küste des Schwarzen Meeres, unter denen sich die Massengräber befinden, verraten nämlich die Täter. Mehrere Teams folgen daher im darauffolgenden Sommer anhand zusammengestellter Listen von Kollegen der mörderischen Spur. Mithilfe jüdischer Sonderkommandos graben sie in jeder Stadt und jedem Dorf die Leichen aus, um sie anschließend zu verbrennen. Ein ganzes Unternehmen mit tausenden von Mitarbeitern ist für Monate damit beschäftigt.

Diese Episode aus der Geschichte des Holocaust wird in Wassili Grossmans mehr als 1.000-seitigem Riesenroman "Leben und Schicksal" aus der Perspektive des jüdischen Buchhalters Rosenberg geschildert, der zu den Sonderkommandos gehört. In "neunundachtzig Dörfern", rechnet er still vor sich hin, "plus achtzehn Flecken plus vier Siedlungen plus zwei Bezirkskleinstädten plus drei Sowchosen" haben sie in den letzten Wochen Halt gemacht und "fünftausendsechshundertundneun Leichen" verbrannt.

Der Roman behandelt die Menschheitstragödien des 20. Jahrhunderts in russischer Lesart: das Leiden der Individuen zwischen Schoa und Stalin. Der 1905 geborene Autor schrieb sein Buch in den Fünfzigerjahren in der Sowjetunion, wo er zunächst als linientreu galt. Mit "Leben und Schicksal" fiel er jedoch in Ungnade; der Roman durfte in seiner Heimat nie erscheinen.

Grossmans unsentimentale Prosa beschreibt jene Jahre, in denen Verschiebung und Vernichtung ganzer europäischer Populationen Realität wurden. Für den Autor, der während des Zweiten Weltkriegs als heldenhafter Korrespondent in Stalingrad berühmt wurde, ist der brutale demografische Eingriff das zentrale, anschauliche Merkmal totalitärer Regime. Selbst während der sich vom Stalinismus abwendenden Chruschtschow-Ära war solch eine These ein Tabubruch. Grossmans Manuskript wurde beschlagnahmt; der Autor starb 1964 an Magenkrebs. Es ist ein Glücksfall, dass er eine Abschrift des Textes einem Freund zur Verwahrung übergeben hatte.

In den Siebzigerjahren fotografierte der Schriftsteller Wladimir Woinowitsch jedes Blatt ab; der Mikrofilm gelangte schließlich auf abenteuerlichen Wegen in die Schweiz. Eine gekürzte Version des Werks erschien 1984 auf Deutsch, wurde jedoch rasch vergessen. Zur Offenbarung für die westliche Öffentlichkeit wie Pasternaks "Doktor Schiwago" oder Solschenizyns "Archipel Gulag" wurde der Roman nicht. Die fehlende Resonanz gehört zu den großen Ungerechtigkeiten der Literaturgeschichte. Denn Wassili Grossmans Roman ist ein erhabenes Monstrum. Ein großer Teil des Buchs beschäftigt sich in diversen Erzählsträngen mit der Schlacht um Stalingrad - und das so realistisch, dass man eine Dokumentation vor sich zu haben glaubt.

Im Mittelpunkt steht die Geschichte des jüdischstämmigen Physikers Strum und seiner Familie. Sie setzt im Sommer 1942 ein, als General Paulus 6. Armee der deutschen Wehrmacht in Richtung Don und Wolga vorrückt. Da erhält der in Moskau lebende Strum den Brief seiner Mutter, den diese hinter dem Stacheldraht eines jüdischen Ghettos in einer von den Deutschen besetzten ukrainischen Stadt verfasst hat und in dem sie die einzelnen Stationen der Judenvernichtung schildert. "Deine Antwort werde ich nie erhalten", schreibt sie. "Ich werde nicht mehr leben." Der Sohn aus der ersten Ehe von Strums Frau ist bei Stalingrad gefallen. Den Ton des mütterlichen Abschiedsbriefes trifft Grossmann bewegend präzise; ebenso erschütternd fällt Ljudmila Nikolajewna Strums Reise zum Grab ihres toten Sohnes aus. Trotz aller Emotionen wird es nie kitschig.

Sicherlich ist Strum von allen Figuren Grossmans, dessen Mutter in der Ukraine ebenfalls ein Opfer des Pogroms wurde, dem Autor am nächsten. Der Physiker, der an Theorien zur Kernspaltung arbeitet, erlebt ähnliche Gefährdungen durch den stalinistischen Terror wie einst sein Schöpfer. Wegen des von Stalin beförderten Antisemitismus Ende der Vierziger-, Anfang der Fünfzigerjahre musste Grossman die Arbeit an dem "Schwarzbuch" über die Vernichtung der sowjetischen Juden abbrechen. Strum wird beinahe gezwungen, seine Theorien wegen ihres angeblich "talmudischen" Charakters öffentlich zu widerrufen.

Aber nicht nur die Genauigkeit, mit der solche gespenstischen Vorgänge geschildert werden, beeindruckt. Dieses Höllenpanorama kennzeichnet eine enorme Plastizität der Szenen: ob nun die Deutschen die russischen Tanks an der Wolga sprengen, so dass große Teile des Flusses in Brand geraten; ob eine Einheit von Rotarmisten in der zerstörten Stadt sich in einem Haus verschanzt und den Angriffen der 6. Armee wochenlang trotzt; ob sich sowjetische Panzerkorps mitten in der Nacht an einen rumänischen Frontabschnitt heranschleichen und dann alle auf Kommando das Licht ihrer Fahrzeuge einschalten, um den Gegner zu verwirren.

Grossman produziert Bilder von dantesker Kraft. Er zeigt uns die Ströme aus Bewegungen, Aktionen, Gedanken, Blut und Feuer in Zeiten des Krieges. Sein Buch ist ein monumentales Gesellschaftsporträt, geschult an Tolstois Epos "Krieg und Frieden". Natürlich war das politisch untragbar: Denn bei Grossman instrumentalisiert Stalin den Freiheitskampf der Bevölkerung zugunsten seines autokratischen Systems. Der Sieg bei Stalingrad ist nicht nur die Wende des Krieges: Vorher galt "russisch" als Synonym für Rückständigkeit, danach stand es für Erfolg. Diese semantische Umdeutung verschaffte der Diktatur eine gefährliche Legitimation, was Grossman als kollektive Tragödie interpretiert. Das Volk kämpft und stirbt - und am Ende siegt der grausame Potentat.

Umso meisterhafter mutet es an, wie der Autor die Schicksale seiner Figuren mit den historischen Ereignissen verknüpft. Da sieht man beispielsweise Genia, der Schwester von Strums Frau, dabei zu, wie sie sich in den Panzerkorpskommandant Nowikow verliebt. Man sieht ihn später wieder, wie er den Befehl Stalins, die Panzer am Morgen der russischen Offensive am 20. November 1942 loszuschicken, um sechs dramatische Minuten verzögert. Und man erfährt, wie Genias Exehemann Krymow, ein überzeugter Kommunist, zur gleichen Zeit im Moskauer NKWD-Gefängnis Lubjanka landet; die Folterszenen gehören zu den aufwühlendsten des Buches.

Krymow ahnt nicht, dass Genia sich gegenüber Nowikow verplaudert hatte: Vor vielen Jahren hatte Trotzki einen Artikel von Krymow gelobt, was später einem Todesurteil gleichkam. Nowikow wiederum hatte aus einem Affekt heraus Genias Information einem Parteikommissar weitergeleitet, was zu der Verhaftung des linientreuen Krymow führt. An diesem Beziehungsgeflecht lässt sich die Stofffülle erkennen. An die hundert Figuren werden in diesen Mahlstrom gerissen, doch keine wirkt deplatziert: weder der jüdische Buchhalter Rosenberg noch Hitler und Stalin, die in jeweils einer Episode ihren Auftritt haben.

Als "Jahrhundert der Wölfe" hatte der Dichter Ossip Mandelstam jene unmenschliche Epoche getauft; ein Zitat, das Strum einmal durch den Kopf geht. Dem brutalen Paradoxon totalitärer Ideologien, die erklären, das "Gute" zu wollen und das "Böse" schaffen, setzt Grossman den Begriff der "Güte" entgegen. Er versteht es als ein individualistisches Prinzip von Menschlichkeit jenseits kollektiver Anmaßung. Dieses Gefühl kippt nie ins Sentimentale. Vor allem die Holocaust-Passagen sind so gelungen, dass es einem den Atem verschlägt. Seit Imre Kertész Romanen hat man nicht mehr solche Szenen gelesen: Da sieht man Eichmann, wie er mit Kollegen nach der Inspektion einer Gaskammer Salami isst und Rotwein trinkt. Da erlebt man Hitler, nachdem er erfahren hat, dass die 6. Armee hoffnungslos eingekesselt ist: Er hadert damit, so klein und gewöhnlich wie jeder andere Mensch zu sein. Da verfolgt man später den letzten Gang der Juden in die Gaskammer. "Wie viel Figuren?", schreit der Scharführer die Männer vom Sonderkommando an. "Neunzehn", antworten sie. Rosenberg murmelt: "Neunzehn ermordete Menschen." Er zählt weiter. Und weiter gräbt er die Gruben aus.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!