: „Was war, das war!“
Im oberbayerischen Dorf Seeshaupt verursacht ein geplantes Mahnmal für ehemalige KZ-Häftlinge Tumult: „Wir wollen nicht gemahnt werden“ ■ Von Corinna Emundts
Dieses Bahnhofs wegen reist Louis Sneh seit 30 Jahren regelmäßig von Beverly Hills nach Germany. Wenn er dann vor dem Gebäude mit der altmodischen Schrift „Seeshaupt“ steht, fotografiert er immer dasselbe, Jahr für Jahr. Einmal den Bahnhof, einmal die Gleise, einmal den Lebensbaum neben der Telefonzelle. Dieses Jahr spricht er erstmals einen Bewohner an. Ob hier denn auch Güterwagen vorbeikämen, er wolle so gerne einen fotografieren. Nein, sagt der Bahnwärter, heute gebe es nur noch Pendelverkehr, aber vor 50 Jahren, da kam einer mit lauter lebenden und toten KZ-Häftlingen drin. Louis Sneh war damals 17 Jahre alt, wog 39 Kilo und saß in einem der Güterwagen. Ein Zug mit etwa 3.000 Häftlingen, der aus einem Nebenlager des Konzentrationslagers Dachau von der SS losgeschickt worden war, um seine Fracht zur „Endlösung“ ins Gebirge zu bringen. Wenige Tage vor der Befreiung des Lagers passierte dies – das Ausmaß des Holocausts sollte vertuscht werden.
Nach fünftägiger Irrfahrt blieb der Zug am 29. April 1945 in Seeshaupt stehen – weil die Amerikaner den Strom abgestellt hatten, sagen die einen; weil der Lokführer vor den Alliierten geflüchtet war, die anderen. Amerikanische Soldaten öffneten am nächsten Morgen die Wagen, befreiten die Insassen und quartierten sie bei der Seeshaupter Bevölkerung ein. Die Amerikaner erteilten den ausgehungerten Häftlingen drei Tage Plünderungsfreiheit. Menschen kamen dabei nicht zu Schaden. Aber über 60 ehemalige Häftlinge starben in Seeshaupt noch an den Folgen des Aufenthalts im KZ, an Fleckfieber, Unterernährung und Typhus.
Der Seeshaupter Anton H. war damals wie Louis Sneh ebenfalls 17 Jahre alt und kann sich noch gut an den Elendszug erinnern. Auf Geheiß der Amerikaner mußte er sich Leichen von Häftlingen anschauen, die in einem gesonderten Güterwagen mitgeführt worden waren. Ein „schlimmer Anblick“ sei das gewesen, sicher sei in dieser Zeit Unrecht geschehen, sagt Anton H. Aber ein besonderes Denkmal für diese Leute aufzustellen, davon hält er nichts. Da müßte ja jede deutsche Gemeinde ein Denkmal aufstellen, und es gebe eh so viele: „Wir haben doch schon ein Mahnmal am Ort – das Kriegerdenkmal. Seit Jahrzehnten gedenken wir dort allen Kriegsopfern.“ Zudem versteht er nicht, „warum man 50 Jahre später der Juden gedenkt, wo doch heute in Jugoslawien dauernd Menschen umkommen“.
Anton H. ist einer der 700 von 2.700 Dorfbewohnern, die auf einer Liste gegen ein geplantes Denkmal am Bahnhof unterschrieben haben. Die Denkmalgegner wollten einen Beschluß ihres Gemeinderats nicht akzeptieren: Daß ein Monument zum 50. Jahrestag der Ankunft des „Güterzuges“ direkt am Bahnhof statt der prominent placierten Telefonzelle aufgestellt wird. Max Mannheimer, Vorsitzender der Dachauer Lagergemeinschaft, der 1945 ebenfalls in jenem Transport saß, stimmt dies nachdenklich: „Es macht mich traurig, wenn sich die Leute eher ihrer vier geschlachteten Ochsen erinnern als der vielen Toten.“
Das Dorf der Rosenkugeln. Auch den Vorgarten von Anton H. schmücken sie wie jeden zweiten der pittoresken Gärten Seeshaupts. Einfamilienhäuser, Pferdekoppeln und akkurat manikürte Hecken. Seeshaupt, am südlichen Ende des Starnberger Sees gelegen, gilt als einer der reichsten Orte der Gegend. Das Pro-Kopf- Einkommen liegt über, die Pro- Kopf-Verschuldung unter dem Schnitt. Flick hat hier seinen Zweitwohnsitz. Seeshaupt ist ein beliebter Alterssitz. „Wer hier wohnt, der sucht Ruhe und Besinnlichkeit“, meint Seeshaupts Bürgermeister Hans Hirsch (CSU). Hirsch, um den Dorffrieden bemüht, richtete nach der Unterschriftenaktion und der ungewohnten Unruhe um das Mahnmal einen Diskussionsabend und einen Arbeitskreis ein, der noch mal alles überdenken sollte.
Manchmal“, sinniert der Stuttgarter Künstler Jörg Kicherer mit Wahlheimat Seeshaupt, „ist die Idylle schwer zu ertragen.“ Man kultiviere hier „eine Vorgartenästhetik mit Rosenbogen“. Sein Kunstwerk, das ein einfaches „Denkzeichen“ sein soll, störe diese Ästhetik. Kicherer, 57, Absolvent der Ulmer Hochschule für Gestaltung, wählte für die senkrechte, aus einzelnen Symbolen bestehende Stele, rostiges Eisen als Material. „Die KZ- Häftlinge wurden wie Schrott behandelt“, folglich sei Schrott passender als traditionelles Material wie Stein, was viele Dorfbewohner bevorzugt hätten.
Das Denkmal müsse an den Bahnhof, befindet der Künstler. Einmal sei die Geschichte der Konzentrationslager nicht auf Seeshaupt beschränkt, zugleich aber eng verbunden mit Güterwaggons und Verladebahnhöfen, zudem stehe am Bahnhof Seeshaupt noch der Lebensbaum als Zeuge des 30. April 1945. Ganz anders die Meinung eines Teils der Bevölkerung. Diffuse Ängste werden da gegenüber dem Ort, der Art der Gestaltung und dem Denkmal an sich geäußert: Etwa, daß Touristen glauben könnten, in Seeshaupt habe es ein Konzentrationslager gegeben. „Nachher werden wir noch zum Wallfahrtsort“, unkt der Blumenhändler, „warum muß man immer alles auffrischen – was war, das war.“
Auch Josef Leistle, 57, der Leiter der Unterschriftenaktion will nicht gemahnt werden. Schon gar nicht auf „einem öffentlichen Platz, wo es im Blickfeld steht“. Warum, so Leistle, „werden wir, die Unschuldigen, gemahnt“. Zudem sei im KZ „alles auf einem Haufen gewesen, die Unschuldigen und die Kriminellen“. Leistle glaubt, daß die 700 Unterschriften viel weniger sind als die Zahl der tatsächlichen Gegner – „in Wahrheit sind 90 Prozent dagegen“.
Große, blaue Rosenkugeln stecken inmitten blaublütiger Blumen im Vorgarten der Dehms. Auch das pensionierte Lehrerehepaar behauptet, daß das ganze Dorf gegen das Mahnmal sei. „Wir sind keine Nazis, wirklich nicht“, beteuert Eva Dehm und deutet auf das „Tagebuch der Anne Frank“ in ihrem Bücherregal. Immer habe sie daraus ihren Schülerinnen im Handarbeitsunterricht vorgelesen. „Aber daß man nach 50 Jahren in jedem Dorf ein Denkmal aufstellt, das ist zuviel“, sagt sie bestimmt. „Das Wachhalten des Schuldbewußtseins muß einmal aufhören“, fügt ihr Mann hinzu, „es war so friedlich und schön in Seeshaupt und jetzt kommt das Mahnmal.“ Sie fühle sich in die Nazizeit zurückversetzt, erregt sich Eva Dehm, „man oktroyiert mir etwas regelrecht auf“. Schließlich gehe alles ja vom Dorfarzt aus, von dem man abhängig sei, sonst, ja sonst wären noch viel mehr Seeshaupter offen dagegen.
Uwe Hausmann ist dieser Dorfarzt, der sich, seit er die Idee eines Mahnmals realisieren will, eine Menge Feinde gemacht hat. Drohbriefe bekam er und auf handgeschriebenen Plakaten, die über Nacht überall im Dorf hingen, wurde er beschimpft. Gestört hat es ihn nicht. Im Gegenteil. Es scheint ihn geradezu zu reizen, das Dorf und auch seine Partei, die CSU, ein wenig aufzumischen. Sein engster Mitstreiter im Gemeinderat ist ein SPDler, seine schärfsten Gegner hat er in der eigenen Partei.
Doch Parteien spielen im Dorf sowieso keine große Rolle, eher schon die persönlichen Beziehungen. Schließlich kann man sich nicht aus dem Weg gehen, muß man beim nächsten Thema wieder zusammenarbeiten. Und so ist Hausmann vorsichtig geworden in dem, was er sagt über sein Dorf. Er versucht, seine Gegner auf seine Seite zu bekommen, indem er ihnen erklärt, das Mahnmal stehe für das Leiden der KZ-Häftlinge, aber auch für alles Leiden aller unschuldiger Kriegsopfer, auch jenen der Seeshaupter Bevölkerung, außerdem sei es ein Symbol für das Ende des Schreckens, ein Denkmal der Hoffnung. Der geborene Seeshaupter erinnert sich noch genau „an das Klappern der Holzschuhe des Elendszugs und an einen ehemaligen Häftling, der plötzlich in unserem Hühnerstall saß und Hühnerfutter mehr gefressen als gegessen hat“. Solcherartige Erlebnisse und die Tatsache, daß er der Sohn des damaligen Ortsgruppenleiters ist, mögen eine Rolle gespielt haben für sein Engagement. Der solle sich doch bitte zurückhalten, hört man dagegen von Neidern im Dorf. „Am meisten irritiert hat mich, daß es einige gab, die das Mahnmal verhindern wollten“, sagt Hausmann. Andererseits habe er eine Menge Befürworter und Unterstützung, immerhin seien bei einem einzigen Spendenaufruf 15.000 Mark für das 20.000 Mark teure Kunstwerk zusammengekommen.
Für Barbara Distel, Leiterin der KZ-Gedenkstätte in Dachau, ist das, was in Seeshaupt passiert, nichts Neues. Im oberfränkischen Pottenstein etwa, in dem ein ähnliches Denkmal geplant ist, sagte eine Wirtin vor laufenden Kameras, sie würde jeden Tag mit ihrem Hund zum Denkmal gehen und ihn daran pinkeln lassen, sollte es denn aufgestellt werden. „Diese unheimlichen Argumente hört man überall“, sagt Barbara Distel. Bereits Ende der achtziger Jahre rief die Gemeinde Gauting alle Nachbargemeinden auf, darunter auch Seeshaupt, Mahnmale für den 1945 aus Dachau kommenden Zug zu setzen. Nur etwa die Hälfte der Orte reagierte.
Die entscheidende Gemeinderatssitzung in Seeshaupt fand vergangene Woche statt: Mit einer Gegenstimme nahm der Gemeinderat den vom Arbeitskreis erarbeiteten Kompromiß an: Das Mahnmal soll kommen, aufgestellt werden soll es allerdings nicht am Bahnhof, sondern an der wenig belebten Bahnhofstraße zwischen zwei Eichen. Auf dem dahinterliegenden Feld wird bald gebaut. Leonhard Sterff (CSU), Mahnmalsgegner und Gemeinderat, sorgt sich um die zukünftigen Anwohner: Der tägliche Anblick des Mahnmals durchs Küchenfenster sei nicht zumutbar. Ein anderer Gemeinderat fragt, ob man das Kunstwerk nicht lieber verzinken könne, als es rostig zu lassen.
Ursula Schneider-Miholic, 41, kommt wütend aus der Sitzung. Der Bürgermeister hatte die Zuhörerin nicht an der Diskussion beteiligt, obwohl sie sich gemeldet hatte. „Bloß keinen Unfrieden stiften – so kam mir die Stimmung vor.“
Mit dem neuen Standort ist sie nicht einverstanden. „Wovor haben die nur Angst, daß sie ein Mahnmal am Bahnhof nicht ertragen können?“ Allerdings müsse man schon froh sein, daß in ihrem Dorf überhaupt ein Mahnmal aufgestellt werde, sagt die Seeshaupterin resigniert.
Louis Sneh hat vor allem Angst im Dunkeln. „Dann kommen die Bilder von damals in meinen Kopf, und ich vergesse, daß ich in einem freien Land bin.“ Viele Stimmen zugleich kann er nicht ertragen. Louis Sneh, in Ungarn geboren, als Jude verfolgt, war in Auschwitz und in einem Außenlager von Dachau, bevor er 1945 aus dem Zug in Seeshaupt befreit wurde. Heute lebt er als Geschäftsmann in Beverly Hills. Vor kurzem fragte ihn seine Enkeltochter, warum er noch am Leben sei – in der Schule habe sie gehört, daß Leute wie Anne Frank alle sterben mußten. Er weint, als er dies erzählt.
Auschwitz heute zu besuchen traut er sich nicht mehr zu, Seeshaupt dagegen ist sein Mekka geworden. Hier sei er zum zweiten Mal geboren worden. Die Diskussion um das Mahnmal nimmt er gelassen. „Eigentlich“, sagt er, „habe ich nicht damit gerechnet, daß sich überhaupt noch jemand an uns erinnert.“ Der neue Standort des Mahnmals würde nichts ändern: „Für mich wird der Bahnhof an sich immer das Denkmal bleiben.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen