Warnstreik bei der BVG: Streik entschleunigt Berlin
Der Ausstandk bei der BVG überrascht viele Berliner. Die bleiben trotzdem gelassen. Einige Schüler verpassen Zeugnisausgabe.
Es dauert fünf Sekunden. Dann hat die junge Frau, die in einem schwarzen Fellmantel vor der geschlossenen Gittertür am U-Bahn-Eingang Hermannplatz steht, verstanden. "Die streiken", sagt sie zu der Dame neben sich. Beide wenden sich ab, auf der Suche nach einem Bus. Der auch nicht fährt. Etwas verwirrt schaut sich die junge Frau um. Was nun?
Der Warnstreik stieß am Freitag auf heftige Kritik. "Die Gewerkschaften haben das Gebot der Verhältnismäßigkeit grob verletzt", sagte der Chef des Fahrgastverbands, Christfried Tschepe. Ähnlich äußerte sich BVG-Chef Andreas Sturmowski:
"Wir haben ein Angebot auf den Tisch gelegt. Das heißt eigentlich, dass man darüber redet." Finanzsenator Thilo Sarrazin (SPD) sagte, weder das Land noch die BVG könne mit einem Streik erpresst werden. Die Gewerkschaft Ver.di fordert
Gehaltserhöhungen von 8 bis
12 Prozent für alle 11.500 BVG-Mitarbeiter. Mit dem Streik reagiert sie auf ein Angebot des Arbeitgeberverbandes, das nur einem Bruchteil der Beschäftigten zugutekäme.
Die Szene wiederholt sich noch oft an diesem Freitag. Überall in Berlin stehen die Menschen vor verschlossenen Bahnhöfen und an verwaisten Haltestellen. Und begreifen, dass ihr Tag heute anders verlaufen wird, als sie es geplant haben. Tausende kommen zu spät zur Arbeit. Eine isländische Touristin in Kreuzberg weiß nicht, wie sie ihren Flieger in Tegel noch erwischen soll. Ein Verliebter aus Neukölln kann seine Freundin im Wedding nicht besuchen. Eine alte Frau auf Krücken muss ihren Arzttermin sausen lassen.
Viele erfahren von den am Vorabend anberaumten Arbeitsniederlegungen der BVG tatsächlich erst auf der Straße. "So kurzfristig streiken, das ist doch grausam", sagt die Gemüseverkäuferin auf dem Platz. Ohne die U-Bahn bleibt ihre Kundschaft aus. "Wir haben überlegt, die Stände nicht aufzubauen. Aber da war das Gemüse ja schon geliefert."
Auch die junge Frau im schwarzen Fellmantel hat nichts vom Streik gewusst. "Ich schreibe gerade meine Magisterarbeit. Da bekomme ich so was nicht mit." Wenn sie nicht studiert, verkauft sie Tickets für die Komische Oper in Mitte. "Gleich fängt meine Schicht an." Sie kramt ihr Handy heraus, tippt mit rot lackierten Nägeln nervös eine Nummer. Sie wird es nicht rechtzeitig schaffen.
An Streiks der S-Bahn hat man sich inzwischen fast gewöhnt. Aber dass U-Bahnen, Busse und Trams anderthalb Tage nicht fahren, ist seit über zehn Jahren nicht vorgekommen, bestätigt ein BVG-Sprecher. Es versetzt die Stadt in einen Ausnahmezustand - den viele Berliner erstaunlich gelassen hinnehmen.
"Wenn sie zu wenig verdienen, ist so ein Streik schon okay", sagt ein Mann, der bei Quelle arbeitet. Eine alte Dame wartet am Alexanderplatz auf die S-Bahn. Sie will ihre Enkel besuchen. Dafür muss sie einen Umweg in Kauf nehmen und ein Stück laufen. Ob sie das aufregt? "Ach was." Vor dem Bahnhof Zoo steht ein hagerer Älterer, zieht an einer Zigarette. Auch er hat Verständnis für die BVGler. "Die Menschen müssen doch von ihrer Arbeit leben können."
Die Nutznießer des Streiks sind die Taxifahrer. "Das läuft hier wie am Schnürchen", sagt einer, der vor dem Bahnhof Zoo parkt. Seit sechs Uhr morgens sitzt er hinter dem Steuer. Bis in die Nacht will er arbeiten, die Nachfrage ausnutzen. Und dafür in der nächsten Woche freimachen. "Heute ist ein guter Tag. Nur wenn man im Stau steht, hat man nichts davon."
Tatsächlich kommen in manchen großen Straßen die Autos nur im Schritttempo voran. Viele, die rechtzeitig von dem Streik gehört haben, sind offenbar auf den eigenen Pkw ausgewichen. Andere haben das Rad herausgeholt und strampeln nun gegen starke Windböen durch die Stadt. Wenn sonst nichts geht, geht man eben selbst, denken wieder andere. Und laufen, teils kilometerweit.
Die Schüler haben am Freitag ihr Zeugnis bekommen. Manche fehlten allerdings wegen des Streiks. Für sie verschiebt sich die Zeugnisausgabe auf nächste Woche - was dem ein oder anderen sicher nicht unrecht ist.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Wirtschaftsminister bei Klimakonferenz
Habeck, naiv in Baku
Frauenfeindlichkeit
Vor dem Familiengericht sind nicht alle gleich