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Wann wird ein Deutschtürke Bundeskanzer?"Ein Bruder im Geiste"

Der grüne Europa- und Exbundestagsabgeordnete Cem Özdemir sieht in der Kandidatur von Barack Obama für die US-Präsidentschaft ein Vorbild auch für Deutschland.

Deniz Yücel
Interview von Deniz Yücel und Thilo Knott

taz: Herr Özdemir, wann wird der erste "Deutsch-Türke" Bundeskanzler?

Cem Özdemir: Oje, das wird auf absehbare Zeit nicht passieren. Es gibt auch keinen Deutschtürken, der sich aufdrängt.

taz archiv
Im Interview: 

CEM ÖZDEMIR, 42, ist seit 2004 Mitglied des Europäischen Parlaments und außenpolitischer Sprecher seiner Fraktion Die Grünen/Freie Europäische Allianz. Die politischen Aufgabengebiete und Interessen des Gründungsmitglieds des European Council on Foreign Relations (ECFR) umfassen die Außenpolitik der EU, das Verhältnis EU-Türkei, Migrations- und Integrationspolitik sowie Islam in Deutschland und Europa. 1994 wurde er als erster Abgeordneter türkischer Herkunft in den Deutschen Bundestag gewählt, dem er zwei Legislaturperioden bis 2002 angehörte.

Sie warten auf einen deutschtürkischen Barack Obama?

Das ist nicht entscheidend.

Sondern?

Entscheidend ist, dass es in Deutschland zur Normalität wird, dass Menschen mit Migrationsgeschichte in unterschiedlichsten Parteien Karrieren machen und den nächsten Schritt vollziehen - nämlich von der Legislative in die Exekutive. In keinem Bundesland gibt es jemanden mit Migrationsgeschichte in der Regierung. Und noch etwas ist nötig: Migranten sind vornehmlich in Mitte-links-Parteien. Das entspricht jedoch nicht den tatsächlichen politischen Mehrheitsverhältnissen unter den Migranten, die mitunter eher konservativ sind. Die Unionsparteien und auch die FDP versagen in dieser Hinsicht völlig. Gerade die Union erfüllt nicht ihre Aufgabe, Konservativen mit Migrationshintergrund, abgesehen von Aussiedlern, eine Stimme in der politischen Willensbildung zu geben.

Die amerikanische Gesellschaft ist da weiter?

Sicher. Die Debatte um illegale Einwanderung zum Beispiel geht quer durch die Parteien. Der evangelikale Kandidat Mike Huckabee steht für eine liberale Immigrationspolitik, andere republikanische Kandidaten für eine Hau-drauf-Linie. Auch bei den Demokraten gibt es keine Einigkeit. Die Kandidaten müssen auch berücksichtigen, dass viele Wähler selbst Immigranten sind. In Deutschland dagegen ist Migrationspolitik ein klar nach links und rechts sortiertes Thema. In den USA hingegen sieht auch die weiße Mittelschicht die Integration als Teil ihrer eigenen Lebensqualität.

Das ist hier nicht so?

Dafür werden die Landtagswahlen in Hessen ein Gradmesser sein. Wenn Ministerpräsident Roland Koch mit seiner Strategie durchkommt, stehen uns harte Zeiten bevor.

Die Union ist also konservativer als die amerikanischen Republikaner?

Eindeutig. Die Union ist da viel ideologischer. Dabei waren es in Deutschland immer die Konservativen, die die transatlantische Partnerschaft und die Westbindung hochgehalten und irgendwann die Linken davon überzeugt haben. Ich würde mir wünschen, dass die Konservativen nicht nur in Sicherheitsfragen, sondern auch in diesen soziokulturellen Fragen in die USA schauen.

Als grüner Politiker können Sie doch der Union dankbar sein. Während in den USA die Demokraten etwa ihr Abonnement auf die Stimmen der Latinos verloren haben, liefert die Union den Grünen und der SPD einige hunderttausend Stimmen der Deutschtürken frei Haus.

Ich freue mich über jede Stimme. Dennoch werbe ich dafür, dass wir uns in diesem Aspekt der politischen Kultur derjenigen Amerikas annähern.

Also dass es einen echten Wettbewerb mit der Union um die Migranten gibt?

Ja, obwohl man mir das als parteischädigend vorwerfen könnte. Ich will, dass konservative Migranten zur Union finden. Das würde ja auch bedeuten, dass solche Wahlkämpfe wie der der CDU in Hessen unwahrscheinlicher würden. Allerdings befürchte ich, dass die Union noch lange brauchen wird, um sich dafür zu öffnen. Da geht es um die Integrationspolitik. Aber auch um die Ansichten der Union zu einem EU-Beitritt der Türkei. Es entsteht der Eindruck, dass die Union ein tiefliegendes Problem mit Menschen aus der Türkei und Muslimen überhaupt hat.

Wenn die Union so schlimm ist und die arme deutschtürkische Community so unterdrückt: Warum gibt es unter Deutschtürken keine Emanzipationsbewegung, wie es sie in den USA unter den Afroamerikanern gab?

Natürlich gehören immer zwei dazu: eine Gesellschaft, die offen ist, und Leute, die sich in diese Gesellschaft integrieren wollen. Das Spannende an Obama ist ja, dass er eine neue Generation von schwarzen Politikern vertritt. Sein Schwarzsein wird sogar von manchen Schwarzen infrage gestellt. Er definiert sich eben nicht über seine Herkunft. Obama tritt vor allem als Kandidat gegen das Establishment an und macht auch für republikanische Wähler Angebote.

Die Deutschtürken gehen nur auf die Straße, um für oder gegen den türkischen Staat zu protestieren. Ist ihnen alles andere egal?

Was bei uns tatsächlich fehlt, ist der Veränderungsdruck. Erst langsam kommt in den Vereinen und Verbänden eine neue Generation, die hier aufgewachsen ist und auch eine andere Agenda hat als sich, wie es früher immer der Fall war, hauptsächlich über die Rolle des Verteidigers oder Kritikers des türkischen Staates zu definieren.

Jetzt sind Sie aber sehr optimistisch, Herr Özdemir.

Ja, vielleicht. Es gibt tatsächlich eine Stimmung, die mich mit Sorge erfüllt. Auf der deutschen Seite gibt es das Gefühl: Wir haben die Schnauze voll - man kann nicht einmal sicher U-Bahn fahren. Und auf der türkischen Seite gibt es das Gefühl: Wir haben die Schnauze voll - egal, was in Deutschland passiert, wir sollen schuld sein. Dieses Gefühl wird von Leuten wie Roland Koch geschürt. Doch deutschtürkische Politiker oder Vereinsfunktionäre stehen auch in der Pflicht, einen Vorfall wie in der Münchner U-Bahn zum Anlass für eine Debatte zu nehmen - über Gewalt in der Familie oder darüber, dass der Fernseher im Kinderzimmer nicht die elterliche Liebe ersetzt. Wenn ich nur als Community-Leader auftrete, der gegen die Mehrheitsgesellschaft wettert, spalte ich die Gesellschaft. Bei der Debatte über Jugendkriminalität nur in eine Bunkermentalität zu verfallen ist zu wenig. Oder nehmen Sie das Beispiel Ehrenmorde: Wenn man die verhindern will, muss man eine Gesellschaft dazu zwingen, sich zu modernisieren. Patriarchale Familienstrukturen ändert man auch dadurch, dass der Staat seine Erziehungsaufgabe wahrnimmt.

Wären Quoten eine Möglichkeit staatlicher Erziehung? Affirmative action für Deutschtürken?

Affirmative action war in den USA durchaus sinnvoll. Um sich aus der Opferrolle zu befreien, muss man nicht dagegen sein. Bemerkenswert ist auch, wie in der letzten höchstrichterlichen Entscheidung affirmative action gerechtfertigt wurde: nicht primär, um Angehörige von Minderheiten zu fördern, sondern damit, dass die anderen über einen vielfältigen Campus etwas von der gesellschaftlichen Realität erfahren.

Fordern Sie Quoten?

Ich bin kein Freund von Quoten, aber sie können sinnvoll sein; das sieht man etwa an der Frauenquote bei den Grünen. Die Zugangszahlen an den Universitäten sind so niedrig, dass es nicht allein an den Nachteilen im Elternhaus liegen kann. Offensichtlich gibt es daneben gesellschaftliche Strukturen, die Migranten benachteiligen. Diese Strukturen muss der Staat durchbrechen. Für eine Übergangszeit wären wir also gut beraten, dem amerikanischen System folgend an Universitäten eine Quote für Studierende mit Migrationshintergrund zu schaffen beziehungsweise die Aufnahme eines Studiums zu fördern. Letzteres gilt ebenso für Arbeiterkinder aus deutschen Haushalten.

Die Qualität, dass die Herkunft in den Hintergrund tritt, fehlt also in Deutschland. Woran liegt das?

Die deutsche Gesellschaft verfügt über viel Erfahrung mit Assimilation, aber über keine mit Vielfalt. Aber mit den Millionen von Deutschtürken wird eine massenhafte Assimilation, wie es sie bei den Hugenotten oder den Ruhrgebietspolen gab, bis auf Weiteres nicht zu wiederholen sein. Wir müssen deshalb dahin kommen, dass jemand sagen kann: Ich bin deutscher Bürger mit türkischer Herkunft. Ohne dass jemand anderes auf die Idee kommt, darin ein Loyalitätsproblem zu sehen.

Davon ist Deutschland aber noch sehr weit entfernt.

Was die Entwicklung solcher Bindestrichidentitäten anbelangt, sind wir höchstens am Anfang. Dazu gehört auch, dass die Führer der türkischen Vereine aufhören müssen, so zu tun, als befänden sie sich hier in einer Art Feindesterritorium. Sie sollten aufhören, sich ständig als in der Opferrolle zu stilisieren. Das ist ein reines Denken in ethnischen Kategorien. Mir ist das völlig fremd. Deshalb sehe ich Barack Obama als einen Bruder im Geiste

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