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Wandernde GesellenUnterwegs auf der Walz

Es ist eine altbackene Art des On-the-road-Seins. Aber sie findet bis heute unterschiedlichste neue AnhängerInnen. Und es gibt alte Platzhirsche.

Start in Hamburg: Aus dem Fotoalbum von Werner Kirscht. Foto: Foto: privat

Als Jessica Schober im August 2014 an der Autobahn steht, den Hut auf dem Kopf, den Rucksack gepackt, wird sie nervös. Seit einem Jahr trägt sie den Plan mit sich herum, und jetzt kommen ihr Zweifel. „Ich habe mir gesagt: Wenn zehn Autos vorbeifahren und mich keiner mitnimmt, soll es nicht sein.“

Die Idee hat sie von einer Bäckergesellin, die das machte, was die Außenstehenden Walz nennen und die Wandergesellen Tippelei. Was sie erzählte, klang auf altmodische Weise romantisch: Sie reiste nur zu Fuß oder per Anhalter, sie zahlte kein Geld für Unterkünfte, schlief da, wo es sich ergab und arbeitete da, wo sie landete. „Es ist leicht, mich zu beeindrucken“, sagt die Journalistin Jessica Schober. „Die Walz wirkt puristischer als plumpes Backpacken, ernsthafter, charakterbildender. Die Tippelei ist eine Herzensbildung.“

Da sie kein Handwerk gelernt hat, darf Jessica Schober allerdings nicht auf richtige Walz gehen und keine Wandergesellin sein, trägt auch keine Gesellenkluft. Jessica Schober arbeitet in Lokalredaktionen. In der traditionsschweren Welt der Gesellen muss sie das immer wieder betonen; sie nutze nur die Idee der Walz als Inspiration, sagt sie dann. Sie trägt den Hut, der sie begleiten soll, drei Monate und einen Tag, wenn alles gut geht. Doch an der Straße wird sie nervös. Zehn Autos fahren vorbei, und natürlich nimmt sie keiner mit. Eigentlich wäre die Reise jetzt vorbei. Jessica Schober ringt mit sich. Dann bleibt sie stehen.

Von Stadt zu Stadt

Bücher und ein Film zur Walz

Jessica Schober: „Wortwalz – Von einer, die schreibt und nirgends bleibt – eine Reporterin auf Wanderschaft“, 256 Seiten, Edel Germany 2016, 14, 95 Euro

Fabian Sixtus: „Journeyman – 1 Mann, 5 Kontinente und jede Menge Jobs“, Körner, 288 Seiten, Ullstein extra 2013, 14,99 Euro

Anne Bohnenkamp und Frank Möbus (Hrsg.): „Mit Gunst und Verlaub! Wandernde Handwerker: Tradition und Alternative“, 224 Seiten, Wallstein 2012, 18,99 Euro

Franz Zschornack: „Franz im Glück: Meine Wanderjahre auf der Walz“, 224 Seiten, Bastei Lübbe 2015, 14,99 Euro

Film von Dominik und Benjamin Reding: „Für den unbekannten Hund“, ein Film über das ­Leben auf der Walz, 102 Minuten, Deutschland 2007, 6,99 Euro

Die Walz in Deutschland hat eine lange Geschichte. Es gab sie lange bevor es diese bayerische Autobahn gab. Seit dem Spätmittelalter ziehen Handwerkergesellen von Stadt zu Stadt, um ihre Arbeit bei unterschiedlichen Meistern anzubieten. In einem von Fürstentümern zersplitterten Europa ist der Wissensaustausch Voraussetzung für Fortschritt; erst mit der Industrialisierung wird die Reise überflüssig, die Walz verliert an Popularität. Dennoch ziehen junge Handwerker weiter los.

Im 19. Jahrhundert gründen sie die ersten Gesellenvereinigungen, sogenannte Schächte, um sich vor Verfolgung zu schützen. Und als die politische Verfolgung nach der NS-Zeit zumindest für westdeutsche Gesellen vorbei ist, erlebt die Wanderschaft einen neuen Boom. Damals, 1955, als Werner Kirscht loszieht.

Kirscht, der einzige Sohn einer Mannheimer Familie, soll in die Fußstapfen des Vaters auf dem Bau treten. Doch den Jungen reizt das Abenteuer. „Ich wollte andere Länder sehen“, sagt der heute 81-Jährige. „Man hatte solche Möglichkeiten ja sonst nicht.“ Seine Familie ist dagegen. „Du mit deinen Spinnereien“, sagt der Vater. Kirscht fühlt sich durch den Widerstand bestärkt. Er zieht los, im Gepäck Kleidung für drei Monate, die ihm die fürsorgliche Mutter eingepackt hat – am Ende ist er dreieinhalb Jahre unterwegs.

Die Walz wirkt puristischer als plumpes Backpacken, ernsthafter, charakterbildender. Die Tippelei ist eine Herzensbildung.

Was für ein Wunder die Welt

Werner Kirscht bereist Österreich und Italien, Frankreich und die Schweiz; er arbeitet für zwei Mark Stundenlohn, schläft in Scheunen, malocht viel und trinkt viel, schlägt sich trotz mangelnder Sprachkenntnisse durch. Und er staunt. Als er mit einem Freund zu Fuß die Alpen überquert und auf die Serpentinen blickt, denkt er sich, was für ein Wunder die Welt ist.

Es ist zunehmend die Einstellung von Leuten wie Werner Kirscht, die die Tradition der Walz am Leben hält. Selbstverwirklichung und Reiselust ersetzt pragmatischen Wissensaustausch; in den achtziger Jahren gründen sich neue Schächte, die nun auch Frauen aufnehmen. Jetzt sind Gesellen zudem auch ganz ohne Schacht unterwegs, als Freireisende. Die alten Schächte aber halten an ihren Traditionen fest: Nur Männer dürfen in den Schacht, Frauen, heißt es, lenken ab, und nach außen regiert Geheimniskrämerei. Die Schächte haben häufig nicht mal eine Internetpräsenz. Auch heute gilt: Wer zu ihnen will, muss sie finden.

Der Eisennagel ist heiß, bevor er Ansgar Wenning durchs Ohr geschlagen wird. Es ist ein Abend im Jahr 2004 in einer Kneipe in Bargen bei Schaffhausen. Mit einem gezielten Hieb schlägt der Geselle den Nagel durch das Ohr des Neulings und weiter in die Tischkante. Schmerzen spürt Wenning keine, dem präzisen Schlag und dem Alkohol sei Dank, aber los kommt er auch nicht. „Ich musste dann erst mal an der Tischkante verharren.“

Eine Reisezeit von drei Jahren

Nageln heißt der Brauch, bei dem der Neuling im Schacht sein unfreiwilliges Ohrloch bekommt – eine Erinnerung an mittelalterliche Zeiten, in denen Gesellen einen Ohrring trugen, um ein mögliches Begräbnis bezahlen zu können. „Bei Außenstehenden sorgen solche Sitten oft für großes Befremden“, sagt Wenning, befindet aber: „Da ist eine Menge Gaudi bei.“ Das Nageln bedeutet seine Aufnahme in den Rolandschacht, einen der ältesten Schächte Deutschlands.

Der Zimmermann Ansgar Wenning hatte eine Walz eigentlich nie in seinem Lebenslauf vorgesehen. Über einen Lehrer an der Berufsschule erfährt er durch Zufall von der Walz; zum Rolandschacht findet er über eine Partybekanntschaft. „Die Unterschiede zwischen den Schächten waren mir gar nicht klar“, sagt Wenning. Ihn reizt, wie so viele, vor allem das Reisen; viel rumgekommen ist er bisher nicht. Aber auch im Schacht fühlt er sich wohl: Die Geheimnistuerei, die alten Traditionen („wir schreiben uns noch Briefe“), das Gemeinschaftsgefühl unter Männern, die althergebrachte Kluft. Und die Ernsthaftigkeit: „Die sogenannte Ehrbarkeit, den blauen Schlips, soll nicht jeder tragen dürfen“, sagt Wenning.

Bis heute stellt die Walz hohe Anforderungen an die Gesellen: Sie dürfen sich ihrer Heimatstadt in einem Bannkreis von 50 bis 60 Kilometern nicht nähern, müssen ohne Handy und Laptop auskommen, dürfen außer dem Flugzeug keine öffentlichen Verkehrsmittel nutzen. Eine Reisezeit von drei Jahren und einem Tag ist fast überall Pflicht. Außerdem tragen die Reisenden traditionelle Kluft und müssen zig Regeln befolgen, nicht jede davon für Außenstehende sinnig: In der Stadt etwa dürfen die Wandergesellen nicht pfeifen, weil man das im Mittelalter ja auch nicht durfte. Wer das heute noch auf sich nimmt?

500 bis 600 Gesellen sollen es in Deutschland sein, etwa zehn Prozent davon Frauen. So ganz genau weiß das keiner, denn mittlerweile sind viele Gesellen als Freireisende ohne Schacht unterwegs. Oder lassen sich einfach nur von der Idee inspirieren, wie Jessica Schober.

Verschlossene Welt der Gesellen

Schober ist fasziniert, dass sie tatsächlich damit durchkommt – vor allem dank der Hilfsbereitschaft von Menschen. „Es sind ständig total absurde Sachen passiert.“ In Ingolstadt schenkt ihr jemand spontan ein Fahrrad; als das Rad dann einen Platten hat, kommt jemand um die Ecke und fragt, ob er den Reifen flicken darf. Einmal wird sie von einem wildfremden Paar, das gerade mit seiner Firma insolvent gegangen ist, ins Vier-Sterne-Hotel eingeladen.

„Die Menschen, die schon mal etwas verloren haben, geben mehr“, merkt Schober. Sie genießt diese Tage, die immer anders verlaufen. Es ist die Reiseromantik, von der sie geträumt hat. Gleichzeitig realisiert sie, dass nicht alles eitel Sonnenschein ist. „Man romantisiert die Tippelei total. An gewissen Stellen gibt es dann Ernüchterung.“ Wer später von seiner Walz schwärmt, erzählt eher selten, wie er unter der Brücke gefroren hat oder in der Sparkassenfiliale pennen musste.

Auch der verschlossenen Welt der echten Gesellen nähert sich Schober. Ein Stück weit bleibt ihr diese Welt dennoch immer fremd – vor allem die Ablehnung gegenüber reisenden Frauen, von der ihr einige Wandergesellinnen erzählen. Schlecht machen will sie die Schächte trotzdem nicht. „Manche assoziieren die Walz mit der rechts-konservativen Ecke, dabei ist sie das genaue Gegenteil: Sie kommt aus der Arbeiterbewegung.“ Die Gesellen seien so verschieden wie alle Menschen. Und damit ihre Walz. Mancher bleibt, wie Jessica Schober, nur in Deutschland. Und für manchen ist das Heimatland nur der Anfang eines wachsenden Fernwehs.

Der Zimmermann Ansgar Wenning beschließt, das mit dem Reisen auszukosten. Und er will dabei lernen. Während er durch Deutschland trampt und arbeitet, besucht er überall Kirchen und Museen. „Viele Leute kennen ihr eigenes Land nicht“, sagt er. Anschließend zieht er ins Ausland weiter, besucht Länder von Norwegen bis Namibia. Eines Tages fragt ihn ein namibischer Bauer, ob er auf seiner Farm etwas zimmern könne. Wenning ist stolz. „Ich war plötzlich der Fachmann“, sagt er. „Da habe ich gemerkt: Ich kann was bewegen.“

Heimkommen ist schwer

Und noch etwas ändert sich: Er, der Großstadtmensch, der in Frankfurt aufgewachsen ist, distanziert sich auf der Reise von der Metropole. „Ich habe gemerkt, dass ich mich auf dem Land viel wohler fühle.“ Am Ende wird er nicht mehr in die Großstadt zurückziehen.

Heimkommen ist schwerer als losgehen, sagt ein Gesellensprichwort. Werner Kirscht kehrt nach seiner Reise in den fünfziger Jahren nicht mehr zu seiner Familie zurück. Er geht nach Leipzig – und ahnt nicht, dass der Mauerbau ihn bald für immer von seinen Eltern trennen wird. Der Walz bleibt er stets verbunden, schreibt ein Buch über sein Abenteuer und wird 45 Jahre später die Route noch einmal mit seiner Frau bereisen. Noch einmal in den Alpen wandern und noch einmal staunen.

Auch Ansgar Wenning erlebt einen Umbruch: Er hat bei der Tippelei seine spätere Lebensgefährtin kennengelernt, die nun auf ihn wartet. Wenning wird mit ihr sesshaft, arbeitet als Zimmermann und macht nebenbei für die Rolandsbrüder den Pressesprecher. Zu Hause schaut er jetzt gerne Quizsendungen im Fernsehen, am liebsten die mit Kulturfragen. Und genießt es, wenn seine Frau fragt: „Woher weißt du das alles?“

Auch Jessica Schober ist eine Reisende geblieben. Einen festen Wohnsitz zu haben, fällt ihr nach der Wanderschaft schwer. Sie fühle sich ernüchtert vom Alltagsleben, dem Dasein als Otto-Normal-Verbraucher. Momentan tourt sie mit einem Bus durch Europa. Den Hut, mit dem sie aufgebrochen ist, trägt sie immer noch. „Es würde sich komisch anfühlen ohne Hut.“

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3 Kommentare

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Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

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  • Mir ist dieses Faible der organisierten Wandergesellen für ihre antiquierten Reglements sehr unsympathisch. Die Einigelung und gegenseitige Ablehnung der Schächte, der Ausschluss von Frauen, die Hierarchien und harten Restriktionen (einschließlich körperlicher Strafen) und v. a. die Intoleranz gegenüber Freireisenden stehen m. E. dem Freiheitsgedanken, den sie so groß vor sich hertragen, diametral entgegen.

    Außerdem entwickeln viele von diesen Leuten unangenehme Popstarallüren. Ich habe früher verschiedentlich mit Wandergesellen zusammengearbeitet und mir gingen das Traditionsgedöns und der Drang zur Selbstdarstellerei oft gewaltig auf die Nerven.

    • @Ruhig Blut:

      Richtig. An die meisten meiner Begegnungen mit Wandergesellen erinnere ich mich ebenfalls eher negativ. Wie Sie sagen: Gerade der Punkt der Selbstdarstellerei und, mit Verlaub, Wichtigtuerei ist besonders fragwürdig, ebenso eine gewisse robuste Art im Umgang mit fremdem Eigentum, wenn ich das mal so formulieren darf.

      • @DR. ALFRED SCHWEINSTEIN:

        Ah, freut mich, dass Sie das auch so erlebt haben. Hab mich schon gefragt, ob ich vielleicht ein bißchen harsch geurteilt habe. Und ich bin da auch sehr netten und reflektierten Leuten begegnet, keine Frage. Aber ne, die Mehrheit kam sich schon verdammt geil vor. Gingen immer davon aus, dass die Welt (und v. a. auch die Mädels) nur auf ihre Heldengeschichten wartet, und hatten die Arbeitsexpertise mit Löffeln gefressen. Dieser, nunja, unbeschwerte Umgang mit fremdem Werkzeug passt da gut ins Bild.

        Man muss fairerweise hinzufügen, dass es ja eigentlich zu ihren Regeln gehört, sich in der Fremde gut zu benehmen, um das Ansehen ihrer Zunft nicht zu beschädigen. Kriegen aber nicht alle hin. Außerdem wird damit auch die Ablehnung der Freireisenden begründet, denn die könnten sich ja schlecht benehmen, weil sie sich nicht dem ganzen Regelbrimborium unterwerfen. Eine sehr autoritäre Weltsicht.

        Mein Eindruck war übrigens, dass die Schwarzschlipse am elitärsten unterwegs sind. Aber das ist vielleicht wirklich nur mein subjektiver Eindruck.