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Wandel im Olympia-GastgeberlandNeues China, armes China

Der erste Besuch in der Volksrepublik nach acht Jahren zeigt ein runderneuertes Land. Moderner und wohlhabender - doch viele alte Probleme sind geblieben.

Straßenverkauf war gestern: Supermarkt in Wuhan. Bild: reuters

Der Nachmittagsflug von Peking ins drei Flugstunden entfernte Urumqi verspätet sich. Erst fegt ein Gewittersturm über die Hauptstadt und legt den Flughafen lahm. Als das Unwetter endet, sorgt ein Notfall in dem im Runway-Stau steckenden Jet für neue Verzögerungen. Die Stewardessen fragen, ob ein Arzt an Bord sei. Später bekommt eine Frau einen Anfall. Sie prophezeit lauthals, das Flugzeug werde abstürzen. Sie zu beruhigen gelingt nicht, alle Passagiere müssen aussteigen.

Wann und wie es weitergeht, erfahren wir in den nächsten Stunden nicht. Wir werden mit Wasser und pampigen Reis abgespeist. Kundeninformationen gibt es nicht. Bei der staatlichen Air China fühlt sich niemand für gestrandete Passagiere zuständig. Stundenlang werden wir im Unklaren gelassen. Es grüßt das alte China. Bei dem waren Kunden eine auf Abstand zu haltende, rechtlose Masse.

Ich erinnere mich an einen Flug mit der gleichen Gesellschaft von Peking nach Frankfurt vor elf Jahren. Nach einer Erweiterung des Flugplans war es der allererste Flug an diesem Wochentag, weshalb in dem Jumbo auf ein Dutzend Flugbegleiter nur 30 Passagiere kamen. Doch statt uns mit gutem Service zu verwöhnen, gab es eine lieblose Massenabfertigung.

Jetzt stellen sich nach einigen Stunden Wartezeit die meisten Passagiere resigniert auf eine Nacht im Flughafen ein. Der ist allerdings hypermodern. Das beeindruckende größte Terminal der Welt wurde vom Stararchitekten Norman Foster entworfen und erst im Februar eröffnet - und funktionierte im Unterschied zum neuen in London-Heathrow auf Anhieb. Altes China im neuen Terminal.

Irgendwann geht es dann doch noch weiter. Statt nachmittags kommt der Flug schließlich morgens um vier in Urumqi an. Ich habe ein Fahrrad im Gepäck, der Flughafen liegt 30 Kilometer außerhalb, und ich kenne mich in der Stadt nicht aus. Zudem ist es stockdunkel. Ein junger Chinese in modischer Markensportkleidung, mit dem ich in Peking die Wartezeit teilte, bietet mir an, mich in die Stadt mitzunehmen. Er studiert in England, und seine Eltern holen ihn ab. Wie groß mein Fahrrad sei? "Normale Größe."

"Kein Problem!"

Ich staune: Seine Eltern fahren einen neuen BMW-Geländewagen. Doch kein reicher Onkel aus Amerika nimmt mich mit, sondern Chinesen aus der entferntesten Provinz. Für den Transport des Rads müssen wir nicht einmal die Rückbank umklappen. Dafür klettert das Schoßhündchen der Familie auf mir herum. Neureiches China, freundliche Menschen.

Zwei Wochen zuvor hatte mir in Qingdao - einst deutsche Kolonie und heute Chinas drittgrößte Hafenstadt und Austragungsort der olympischen Segelregatten - jemand stolz erzählt, die Lokalregierung habe im Stadtzentrum das Radfahren verboten. Fahrräder hielten nur den Verkehr auf, deshalb dürften sie die Fahrbahnen nicht mehr benutzen. Und wollte ich bei einer Chinesin landen, so sein Rat, müsste ich unbedingt im Auto vorfahren - und sei dies nur geliehen. "Als Fußgänger oder Radler hast du keine Chance mehr." Neues China, materialistisches China.

In Peking, einst Hauptstadt radelnder Massen, sind heute mehr Autos als Fahrräder zu sehen. Wegen der Staus geht es trotzdem nicht unbedingt schneller. Nicht nur in Peking, Hangzhou oder Qingdao, sondern auch in Xinjiang oder Gansu fällt nach achtjähriger Besuchspause auf, dass es kaum Fahrzeuge gibt, die älter als zehn Jahre sind. Veraltete und oft schrottige Autos, Erkennungszeichen vieler Entwicklungsländer, sind kaum zu finden. Stattdessen ist alles neu: Pkws, Trucks, Busse und die meisten Fahrräder. Und das gilt auch für die Straßen, selbst in abgelegenen Regionen.

Ich erinnere mich noch daran, wie ich 1997 einmal in einem Pekinger Taxi Kopfschmerzen bekam, weil eine marode Benzinleitung ins Fahrzeuginnere dünstete. Und in Nanjing begann ein Taxi ab Tempo 60 so zu rumpeln, dass mich die kalte Angst packte. Heute kommt in vielen Taxis auf Knopfdruck eine Quittung aus dem Taxameter. In manchen Taxen und Bussen gibt es Flachbildschirme mit Werbung und News von CCTV, dem chinesischen Zentralfernsehen. Und in Pekings U-Bahn weichen die Fahrkartenverkäufer elektronischen Smartcards. Modernstes China.

Der Modernisierungsschub erstreckt sich auch auf Bauten. Viele gekachelte Gebäude, erst in den 80er-Jahren errichtet, werden schon wieder abgerissen und durch modernere, größere und schönere ersetzt, zumindest sind sie dies offenbar nach dem chinesischen Geschmack. Und selbst im hintersten Xinjiang fallen viele Kleinstädte durch neue Hauptstraßen samt extravaganter Straßenlaternen sowie durch protzige Verwaltungs- und Parteigebäude auf.

Und noch nie habe ich so viele Leute mit schicken iPhones gesehen wie in Peking. Doch selbst in der abgelegenen Oasenstadt Hami in Xinjiang, wo Chinas beste Melonen herkommen, gibt es Neureiche, die im Hummer herumfahren, jener Zivilversion des US-Militärfahrzeugs Humvee. Lange suchen muss man dagegen nach Männern im Mao-Anzug. Dieses alte China ist so gut wie ausgestorben.

Chinesen sind heute nicht nur modisch schick gekleidet, sondern spürbar gebildeter, weltgewandter und selbstbewusster. Mittelständische Unternehmen etwa in der Provinz Zhejiang stellen sich wie selbstverständlich ihren ausländischen Besuchern mit Powerpoint-Präsentationen dar. Auch im Umgang mit westlichen Journalisten gibt es weniger Hemmungen. Zum Teil treten chinesische Manager sogar lockerer und professioneller auf als ihre in das Land entsandten deutschen Kollegen. Die reagieren angesichts der China-Kritik in ihren Heimatländern nicht selten ausgesprochen unsouverän und bestehen darauf, alle Zitate mit der deutschen Zentrale abzustimmen. Neues China, neues Fettnäpfchen.

Bezeichnend ist das Erlebnis eines Bekannten. Er spaziert in Hami aus Jux in eine Kaserne der Volksbefreiungsarmee, stellt sich als Bundeswehroffizier der Reserve vor und verlangt den Kommandanten zu sprechen. Er wird verwundert angeschaut, aber weder gleich rausgeworfen, noch wird hektisch Alarm ausgelöst und etwa eine Spionageaffäre inszeniert. Er wird freundlich hingehalten, bis ihm schließlich der Kommandant gegenübersteht. Doch noch ehe der aus chinesischer Sicht merkwürdige Deutsche weiß, wie ihm geschieht, hat ihm der Chinese einfach ein Taxi bestellt und entledigt sich so des unangemeldeten Besuchers auf elegante und unaufgeregte Weise. 1:0 für China.

"Natürlich bin ich stolz, Chinesin zu sein. Das ist meine Pflicht. Wir sind so reich, die Regierung gibt uns alles, was wir brauchen, und wir beeinflussen die Welt. Wenn wir unsere Exporte stoppen würden, würde das auch euer Leben in Europa beeinflussen," sagt eine attraktive Anglistikstudentin bei einem Treffen mit ihren Kommilitonen vom "Zhejiang Future Entrepreneur Club" in Hangzhou. Sie steht für Chinas junge und ehrgeizige Generation, die sich heute selbstbewusst der Welt präsentiert, wenngleich vielleicht nicht so, wie wir das gern hätten.

Chinas Studenten nehmen kein Blatt vor den Mund. Ohnehin kommunizieren Chinesen viel offener und direkter als zum Beispiel Japaner. Eine befreundete Professorin einer Tokioter Eliteuniversität berichtet ehrfurchtsvoll, ihre chinesischen Studenten sprächen nicht nur besser Englisch als ihre japanischen, sondern seien auch politischer und kritischer.

Dank relativer Freiheit im Internet ist Chinas heutige Jugend besser informiert als die Generationen vor ihr. Eine neue studentische Demokratiebewegung ist jedoch nicht in Sicht, vielmehr ist die Jugend heute nationalistisch und karriereorientiert. Das zeigt sich auch am Future Entrepreneur Club. Er dient nicht etwa als Tarnung für heikle Diskussionen über politische Reformen, sondern der eigenen Karriere. Neues China, neue Karrieren.

Das Zentralfernsehen strahlte in den letzten Wochen als Trailer abwechselnd Szenen vom landesweiten olympischen Fackellauf oder von heldenhaften Rettungsarbeiten nach dem schweren Erdbeben in Sichuan aus. Gezeigt werden jubelnde oder helfende Menschen sowie Politiker im Dienst am Volk. Angehörige von Regierung, Partei und Armee, aber auch Symbole der Nation, Kultur und Entwicklung werden dabei immer wieder imposant in Szene gesetzt, zum Teil musikuntermalt in Zeitlupe und mit wehenden Fahnen.

Eine ständig wiederholte Schlüsselsequenz zeigt eine Rettungsszene nach dem Beben. Uniformierte Helfer tragen eine auf einer Bahre liegende Person einen Hügel hoch. Die Ikonografie erinnert an das berühmte Foto aus dem Zweiten Weltkrieg, als US-Soldaten bei der Einnahme der Pazifikinsel Iwo Jima auf einem Hügel ein Sternenbanner hissen. "Wenn wir als Nation zusammenstehen, werden wir siegen", so die implizite Botschaft - damals wie heute. Ein China, heldenhaftes China.

Dieses Zusammenstehen muss allerdings geübt werden, findet zumindest die Partei. In der von ihr propagierten "harmonischen Gesellschaft" darf nichts dem Zufall überlassen werden. Pekings Olympische Spiele, die schon seit Monaten mit ihren Emblemen und Maskottchen landesweit den öffentlichen Raum komplett dominieren und, noch verstärkt durch die kommerzielle Werbung, fast schon als Gehirnwäsche daherkommen - sie sind höchste Bürgerpflicht. Auch in kleineren Städten gibt es Propagandatafeln oder Blumenbeete mit olympischen Symbolen, die dem Großereignis in der Hauptstadt Tribut zollen. Eine Welt, ein Traum?

Der landesweite Fackellauf dient der Massenmobilisierung, für die keine Mühen gescheut und Heerscharen von "Freiwilligen" eingespannt werden. Wer die Spiele mit spontaner Freude assoziiert, verkennt Chinas Kommunisten. Selbst in einem Ort wie der alten Seidenstraßenstadt Dunhuang mit 190.000 Einwohnern in der Provinz Gansu, wo nun wirklich keine Proteste zu befürchten sind, lassen die Behörden an einem Samstag Zehntausende bei großer Hitze antreten, um den Fackellauf zu üben.

Die halbe Stadt ist abgesperrt, überall stehen Schüler, Studenten, Beamte in Olympia-Shirts gelangweilt an der Strecke herum und werden von der Polizei immer wieder auf Trab gebracht. "So etwas gibt es wohl nur in China", stellt ein Mann im Publikum kopfschüttelnd fest. Doch als schließlich ein Läufer mit einer Plastikattrappe der Fackel vorbeiläuft, bleiben die Menschen erstaunlich ruhig. Weder Jubel noch Pfiffe. Sie wissen genau, was gespielt wird. Neues China, armes China.

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