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Walter-Benjamin-GesamtausgabeDer Engel der Moderne

Museum, Gefängnis, Werkstatt oder Abenteuerspielplatz? Der Suhrkamp Verlag beginnt mit einer historisch-kritischen Edition der Werke Walter Benjamins.

Am 20. Juni 1919 notierte der Freund in sein Tagebuch: "Die Stellung Walters zu seinem Examen ist schlechthin furchtbar und unerträglich. Er lebt in der wüstesten, unanständigsten Angst", obwohl das Ganze ja eine "Farce vor dem Dekan" sei. Eine Woche später hatte Walter Benjamin es aber geschafft und sein mündliches Doktorexamen an der Universität Bern mit "summa cum laude" bestanden; die Prüfer waren begeistert. Benjamin war, wie der Freund Gershom Scholem beobachtete, "endlich von der ganzen Universität frei - bis er auf einem andern Weg zu ihr zurückkehrt!"

Wie ungewollt präzise diese Prophezeiung war, konnte Scholem damals nicht ahnen. Walter Benjamins Rückkehr an die Universität dauerte Jahrzehnte. Und es musste tatsächlich ein anderer Weg sein: Denn erst lange nach seinem Selbstmord auf der Flucht vor den Nazis über die Pyrenäen 1940 begannen die Schriften des 1892 geborenen Denkers an den Universitäten zu wirken; zunächst allmählich in der Bundesrepublik in den Fünfziger- und Sechzigerjahren, schließlich dann in einem globalen Triumphzug durch die intellektuellen Köpfe aller Länder, Disziplinen und Künste, in vielen Sprachen eifrig zitiert, diskutiert und interpretiert. Vom prekären Außenseiter zu Lebzeiten ist Walter Benjamin posthum zum Großklassiker geworden.

Etwas allerdings fehlte bislang zum echten Klassikerstatus: eine historisch-kritische Gesamtausgabe seiner Werke. In den kommenden Jahren wird jedoch der posthume Walter Benjamin auch diesen geistigen Olymp erklimmen, unterstützt von zahlreichen Archivaren und Editoren. Im Suhrkamp Verlag erscheint eine 21-bändige Ausgabe mit jeweils zwei Bänden pro Jahr, die voraussichtlich 2018 vollendet sein wird. Macht sich jetzt doch ein "philologischer Fanatiker" ans Werk? Davor hatte noch Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld gewarnt, als er sich 1967 in einem Brief an Adorno für eine komplette Ausgabe der Schriften Benjamins einsetzte.

Nichts ist tödlicher für einen Autor, als in die Hände der Philologen zu geraten: So lautet jedenfalls ein gängiges Vorurteil, das Schriftstellern und Theoretikern gleichermaßen gilt. Der Ruhm vergilbt schnell in verstaubten Bibliotheksregalen; schließlich werden die teuren kritischen Gesamtausgaben weder gekauft noch gelesen. Und gerade heiße, wild-gefährliche Denker landeten besonders brutal in der editorischen Tiefkühltruhe. Dort würden sie schockgefroren im sachlichen Zeilenkommentar, ruhiggestellt in der unerbittlichen Zwangsjacke eines Anmerkungsapparats, der gleichmütig vom Schicksal sowohl einer bahnbrechenden These als auch jedes Einkaufszettels berichtet.

Die epochemachende Nietzsche-Ausgabe, die Giorgio Colli und Mazzino Montinari zwischen 1967 und 1977 herausgaben, ist für die angebliche editorische Schwächung eines einstmals starken und einflussreichen Autors ein beliebtes Beispiel. Doch das Gegenteil ist viel eher wahrscheinlich: Ohne jene Ausgabe wäre Nietzsche in unseren heutigen Augen womöglich nur noch der frühreif-durchgeknallte Schreiber, der in Turin ein Pferd umarmt hat. Colli und Montinari haben hingegen Nietzsche, der unserer intellektuellen Coolness heute denkbar fremd erscheint, als einen der bedeutendsten Philosophen vor dem Verblassen gerettet.

Der Rettung bedarf auch Walter Benjamin: vor seinen zahlreichen Verehrern, die in ihm eine intellektuelle Heiligengestalt anbeten. Überall grassiert die Benjaminitis; längst ist er zum Metaphernautomaten für Kuratoren und Dramaturgen degradiert, die mit Benjamin-Zitaten Projektanträge, Kataloge und Theaterprogramme verzieren. Herz und Stimme zittern billig mit, sobald man den Namen Walter Benjamin ausspricht. Wegen seiner gefährdeten Existenz, seiner erzwungenen Emigration und seines tragischen Endes erzeugt der Aura-Theoretiker ironischerweise selbst eine Aura, in der sein Denken verschwimmt.

Benjamins Werk wieder scharf zu sehen, ist ein Ziel der kritischen Gesamtausgabe. Auraproduktion wird freilich auch hier stattfinden, nicht zuletzt aufgrund der Anmutung: edles Einband-Grau unter Verzicht auf einen Schutzumschlag, wodurch die Bände die schöne Schlichtheit von selbst zum Objekt gewordenen Arbeitsbüchern verströmen; Prägeschrift auf dem Titel; innen eine ebenso intelligente wie angenehme typografische Gestaltung auf kräftigem Papier - all das hätte den Materialfetischisten Walter Benjamin glücklich gemacht. Zur Auraerzeugung gehört zudem das - wissenschaftlich gut begründbare - Vorhaben, einzelne Bände mit seinem Spätwerk als vierfarbige Faksimileausgaben zu veröffentlichen: so die Fragmente des "Passagen"-Werks, das Baudelaire-Buch, seine Thesen "Über den Begriff der Geschichte" sowie die Notizhefte. Benjamins komplexe Schreibprozesse werden dann sichtbar sein.

Zweierlei macht die Kritische Gesamtausgabe jedoch zu einer Notwendigkeit. Einmal ist die Geschichte der Veröffentlichungen Walter Benjamins nach 1945 voller unübersichtlicher Wechselfälle. Die von Theodor W. Adorno und seiner Frau Gretel 1955 herausgegebene erste zweibändige Sammlung, zu der sich Suhrkamp durchringen konnte, litt unter Eingriffen: aus Umfangsgründen weitgehend von Fußnoten befreit, ebenso von Benjamins Marxismus. Letzteres wurde bereits damals kritisiert und führte dann 1967/68 zu heftigen öffentlichen Debatten über Adornos Zensur seines Freundes. Zum anderen ist es Benjamins eigentümlicher Denkstil, der, mittlerweile gut erforscht, eine Neuedition gleichsam erzwingt. 12.000 Blatt lagern im von Jan Philipp Reemtsmas "Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur" getragenen Walter-Benjamin-Archiv in der Berliner Akademie der Künste. Benjamins "verzettelte Produktion", also zahllose Anregungen sofort in kalligrafischer Minischrift notierende, verarbeitende, archivierende, neu kombinierende, nie statische Arbeitsweise erzeugt eigene Zusammenhänge zwischen seinen publizierten und unveröffentlichten Texten aus dem Nachlass. Das Fragmentarische, über die Jahre hin vieles miteinander Verwebende macht einen Großteil von Benjamins Modernität und Wirkung aus. Die Edition wird insofern eine Kartografie seiner Denkbewegungen liefern.

Den Anfang macht jetzt Benjamins Dissertation, die seiner angstbesetzten Examensprüfung von 1919 vorausging: "Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik". Sie war ihm stets wichtig, auch wenn sie damals kaum wahrgenommen wurde. Schon an diesem Band lassen sich die inhaltlichen Gewinne durch die aufwendige Edition und den üppigen Anhang erkennen: Man sieht, wie Benjamin seine Kernthese von der zentralen Bedeutung messianischen Denkens für die Romantiker in zwei Fußnoten versteckt und nicht erklärt, wie freihändig er Zitate für seine Zwecke zurechtbiegt. Anhand der beigefügten Dokumente lassen sich sogar seine Anregungen aus Besuchen der Seminare an der Universität von Bern nachvollziehen.

"Ich will aber nicht verschweigen, dass mich immer wieder zeitweilig Angst vor dem Unternehmen und dem Mut, der darin liegt, um nicht zu sagen: vor dem Übermut, befällt. Aber es muß eben gewagt werden." So schrieb Peter Suhrkamp 1953 an Adorno über das Projekt einer Benjamin-Ausgabe. Der Suhrkamp Verlag wagt nun, ein halbes Jahrhundert später, diese Edition, befördert von Reemtsmas Stiftung und zu einem bemerkenswert moderaten Preis. Im November 1940 hatte Gershom Scholem, nachdem er die Nachricht vom Selbstmord seines langjährigen Freundes erhalten hatte, an Adorno geschrieben: "Ich glaube, es ist die Pflicht seiner Freunde, in irgendeiner Weise, soweit es die jetzigen Umstände erlauben, für die Rettung seiner Papiere Sorge zu tragen. Die Ereignisse der Weltgeschichte sind ja von der Art, dass der Untergang eines genialen Menschen in all diesem schrecklichem Wirbel kaum mehr bemerkt wird, und doch gibt es genug Menschen, für die die Erinnerung an diesen Toten unvergesslich bleiben wird." Dass das Werk des genialen Menschen Walter Benjamin heute durch diese Edition weiterlebt, ist schon jetzt ein Grund zur Freude: Es ist eine epochale Leistung, die eines epochalen Denkers würdig ist.

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