Wahnsinn mit Vierfachschraube

Nichts für Leute mit der Bodenhaftung einer Schildkröte: Die Trickski- AkrobatInnen feierten ihren olympischen Einstand  ■ Aus Lillehammer Cornelia Heim

Es sei schon „extremely crazy“. Aber andererseits „so schön, daß wir es können, und alle anderen denken, es ist verrückt“. Sagt US- Boy Trace Worthington, nachdem er sich im Training auf den Hosenboden gesetzt hat. Er schnappt sich den nächsten Bügel, und auf geht's zum dreifachen Salto nebst vierfacher Schraube, alles fabriziert binnen 2,5 Sekunden Höhenflug mit 1,70 Meter langen Latten an den Füßen.

Dieter Thoma, der Schwarzwälder, welcher die konventionelle Methode (Ski unten, Köpfchen in die Höh') bevorzugt, schaut den Sprungakrobaten zu, krallt unwillkürlich seine vergleichweise stabilen 2,70-m-Fluggeräte fester: „Gut, daß ich das nicht machen muß!“ Sie, die braven Weitspringer, hätten es, so gesehen, viel einfacher, zumindest von der Koordination her. „Der helle Wahnsinn ist das doch!“ Schon wieder läßt sich einer von der 3,20 Meter hohen Sprungschanze einen Kick in die hohe weite Welt geben: Salto vorwärts, Schraube vor-, rückwärts, Kopf unten, oben, Ski irgendwo – ein heillos wirbelndes Durcheinander von Mensch und Ski. Nichts für Leute mit der Bodenhaftung einer Weinbergschnecke. Trace Worthington, der Führende im Weltcup, lacht: „Ich weiß manchmal in der Luft auch nicht mehr, wo ich eigentlich bin.“

Bestenfalls landet er wieder mit beiden Beinen auf Mutter Erde. Schlechtestenfalls weiße Mäuse suchend im Schnee. „Och, die Sportart ist nicht verletzungsanfälliger als andere“, sagt der gerade von einer Schulterverletzung Genesene. „Crazy“ eben, diese Trickski-Szene, die ein paar „verrückte Skiläufer wie Fuzzy Garhamer“ auf dem Gewissen haben. Gestern feierten sie ihre olympische Premiere mit der Qualifikation. Am Donnerstag wird's ernst, im Finale der besten Zwölf. Männlein wie Weiblein treten unter gleichen Bedingungen an. Fünf Wertungsrichter benoten Sprunghöhe, -weite, Haltung. Zwei Landungsrichter beäugen den Aufsprung.

Es ist ein buntes Völkchen, das zum etablierten Rest des Skizirkus ein ebenso herzliches Verhältnis pflegt wie die Surfer zu den Seglern oder die Snowboarder zu den zweibeinigen Pistenraupen. Gespalten. Hier die Arrivierten, da die Trendsetter. Hier die dicke Kohle, da die gute Laune. 3,25 Millionen Mark werden im alpinen Weltcup ausgeschüttet, 460.000 Mark im Freestyle. Christoph Wagner, der deutsche Cheftrainer: „Bis vor kurzem mußten sich die Aktiven selbst finanzieren.“ Seit Freestyle die Weihe der fünf Ringe besitzt, darf auch der Steuerzahler ein bißchen verrückt sein – Sporthilfe, Verdienstausfall und die Trainer bezahlen.

Zu den besten Frauen zählt Lina Tscherjazowa. Die Usbekin wählt einen extrem langen Anlauf, um auf ihre 60 Stundenkilometer Speed zu kommen. „Sie braucht das Tempo, ihr Absprung ist schlecht“, erklärt Ernst Pfleiderer, der neben den Schanzen steht und die Konkurrenz beobachtet. Jetzt bringt Sonja Reichart die kalte Winterluft ins Schwitzen. Die 29jährige Immenstädterin hatte sich schon aufs Altenteil zurückgezogen. Die Aussicht auf olympisches Metall hat sie zum Comeback bewegt. „Sonja hat eine Medaillenchance“, sagte Trainer und Lebensgefährte Pfleiderer zuvor beschwörend, „wenn sie hinsteht.“ Sie stand nicht hin. Beim ersten Qualifikationssprung stürzte sie und konnte zum zweiten Durchgang nicht mehr antreten.

Bis zu 15 Meter trägt es den bodenunbeständigen Fuzzy-Nachwuchs nach oben. Der Landehang ist steil, je steiler, desto besser. „Bei 39 Grad Neigung und 15 Meter Sprunghöhe ist es für die Knochen grad so, als ob man aus einem Meter Höhe auf eine horizontale Fläche aufkommt“, erklärt Pfleiderer, spricht von Cosinus und Ausfallswinkeln, als ob sich sportliche Verrücktheiten ganz rational in ordentliche Gesetzmäßigkeiten fügen ließen. Alles klar? Alles ganz „easy“. Trainiert wird im übrigen in der Halle. Auf dem Trampolin und der Wasserschanze – 800 bis 1.300 Sprünge jährlich. Das Schwierigste? „Die Überwindung“, sagt Sonja Reichart. Immer noch, nach zehn Jahren Weltcup. „Ich stehe oben und habe gehörig Respekt.“ Ebenso wie Elfie Simchen, die das Finale erreichte. Sie stürzt sich in die Arena der tobenden Zuschauer. Dreifacher Salto mit Schraube. Beim nächste Sprung setzt sie sogar eine zweifache Schraube drauf. Pfleiderer: „Die Schraube am Schluß macht fast jeder, dann siehst du den Hang besser ein.“ Klar: Verrückt eben, ganz schön sogar. Was zu beweisen war.