Wahlkampf um Parlamentssitz von Jo Cox: Eine Schauspielerin soll’s richten
Für die Nachfolge der getöteten Abgeordneten schickt Labour eine TV-Aktrice ins Rennen. Außer ihr tritt nur noch die radikale Rechte an.
Der Ort gehört zum Wahlkreis Batley and Spen von Jo Cox, die am 16. Juni, kurz vor ihrem 42. Geburtstag, von einem Rechtsradikalen ermordet worden war. Cox, Abgeordnete der Labour-Partei, wuchs hier auf und war beliebt. Vor ihrer politischen Karriere hatte sie für die Entwicklungshilfeorganisation Oxfam gearbeitet. Die rechtsradikale Szene hasste sie, weil sie sich für Yorkshires Minderheiten und Muslime eingesetzt hatte. Sie warb auch für den Verbleib in der EU. Ihr Wahlkreis stimmte am Ende aber für den Brexit, ebenso wie ganz West Yorkshire.
Am 20. Oktober wird hier eine Nachfolgerin oder ein Nachfolger für den vakant gewordenen Parlamentssitz gewählt. Ein Blick auf diese Wahl zeigt, wie stark sich die politische Landschaft Großbritanniens inzwischen verändert hat.
Zu den wenigen verbliebenen Einzelhandelsgeschäften von Batley gehört Maz Decor, ein Laden für Heimwerkerwaren. Sein Besitzer, ein schlanker Mann um die dreißig mit Jeans und schwarzer Lederjacke, lebt seit zehn Jahren im Ort. Er stammt aus Pakistan – 37 Prozent der Bevölkerung hier stammen vom indischen Subkontinent.
Migranten unter sich
Batley sei ein guter Platz für Einwanderer, sagt er: Noch nie habe ihn jemand hier beleidigt oder angepöbelt, „selbst wenn ich Kaftan und Kopfbedeckung trage“. Die meisten Migranten hier lebten jedoch unter sich, abgesondert vom Rest der Bevölkerung.
Vor 15 Jahren rebellierten im zwanzig Autominuten entfernten Bradford Jugendliche aus Familien, die aus Asien und anderen Ländern außerhalb Europas eingewandert waren. Ganze Straßen gingen damals in Flammen auf. Ihre Wut verstand man als Ausdruck allgemeiner Frustration der erwachsen gewordenen Migrantenkinder: über Diskriminierung und Rassismus im Alltag und als Protest gegen die Aktivitäten von Neonazis.
Dass die Angehörigen verschiedener ethnischer Gruppen eher nebeneinander als miteinander leben, wie Studien zeigen, hat sich seither kaum verändert.
So entstehen leicht böse Vorurteile und Gerüchte. Als in der Stadt Rotherham im Jahr 2010 bekannt wurde, dass ein Prostitutionsring – Männer vorwiegend pakistanischer Herkunft – minderjährige Mädchen in Kinderheimen missbraucht hatten, drückten die Verantwortlichen bei Polizei und Labour-Stadtverwaltung zunächst beide Augen zu. Daraufhin bezeichneten ultrarechte Gruppen pauschal alle Muslime und Asiaten als Sexualverbrecher.
Rasante Zunahme von Rassismus
Laut Tell Mama, einer britischen Organisation, welche islamfeindliche Angriffe statistisch erfasst, haben rassistische Übergriffe – etwa auf Taxifahrer pakistanischer Herkunft – seit dem Rotherham-Fall rasant zugenommen.
Und dann, eine Woche vor dem britischen Brexit-Referendum im Juni, tötete ein Mann aus dem rechtsradikalen Milieu im drei Kilometer von Batley entfernten Bristall Jo Cox.
„Ja, ich kannte sie“, sagt der Besitzer von Maz Decor über die Politikerin, die als Labour-Nachwuchshoffnung galt. „Sie war so freundlich und winkte mir öfter zu. Einfach so, obwohl ich sie nicht persönlich kannte.“
Für die Nachwahl am kommenden Donnerstag haben Konservative, Liberaldemokraten, Grüne, Sozialisten, ja sogar die „Unabhängigkeitspartei“ Ukip aus Respekt vor Jo Cox auf eigene Kandidaten verzichtet. So dürfte die Kandidatin der Labour-Partei, die 55-jährige TV-Schauspielerin Tracy Brabin, eigentlich problemlos den Sitz ihres 110.000 WählerInnen starken Landkreises gewinnen. Allerdings: Nicht alle haben auf die Gegenkandidatur verzichtet. Acht Bewerber, davon fünf Angehörige extrem rechter Parteien, treten ebenfalls an.
Wenige Tage vor der Abstimmung sortieren Labour-Mitglieder in ihrem Ortsverein in der Stadt Checkheaton, die zum Wahlkreis gehört, ihre Wahlkampfmaterialien. „Let’s stand together!“, fordern die Flugblätter und Plakate. Auf dem Fensterbrett neben der Eingangstür steht ein eingerahmtes Foto einer lächelnden Jo Cox.
Nur wenige Schritte weiter wirbt ein ultrarechter Kandidat um die Stimmen der Anwohner, „um weiße Frauen und englische Kultur vor muslimischen Männern zu retten“.
Politisches Desinteresse
Die Labour-GenossInnen glauben zwar nicht, dass die Ultrarechten bei den Wahlen eine Chance haben. Als größte Herausforderung sehen sie aber politisches Desinteresse. Sie hoffen, dass ihre Kandidatin Tracy Brabin die Leute an die Wahlurnen bewegen kann: Man kennt Brabin in Großbritannien aus dem weltweit erfolgreichen Film „The Full Monty“, der auf Deutsch als „Ganz oder gar nicht“ in den Kinos lief. Vor allem gehört sie zu den Stars beliebter Fernsehserien wie „Coronation Street“ und „East Enders“, wo sie eine Arbeitslose und eine Zuhälterin spielt. Aber reicht das für den Sitz im Parlament? Gegen Journalisten wird sie abgeschirmt.
In Batley, gegenüber dem Heimwerkerladen Maz Decor, steigen derweil ein paar Leute aus einem schwarzen Kombi. Sie bauen einen Stand auf und stellen nicht nur eine, sondern gleich acht Fahnen mit dem rotweißen Georgskreuz der englischen Ultranationalisten auf. Dazu rote Banner, auf denen „England First!“ steht. Es ist der Stand der Englischen Demokraten, zu deren europäischen Verbündeten in Europa die serbische Obraz und die griechische Goldene Morgenröte zählen.
Nur ein paar Journalisten scharen sich um die freundlich lächelnde Kandidatin der Englischen Demokraten, Therese Hirst, geborene Muchewicz, und den eloquenten 58-jährigen Parteivorsitzenden Robin Tilbrook.
Hirst sagt, die Labour-Kandidatin Brabin unterstütze den linken Labour-Chef Corbyn und sei zudem für die EU. Allein deshalb müsse sie schon antreten, um der Labour-Frau den Sitz streitig zu machen. Tilbrook fordert ein eigenes Parlament für den englischen Teil des Königreiches – besser noch die englische Unabhängigkeit, wenn Großbritannien erst aus der EU ist. Er will auch ein fünfjähriges Moratorium für Einwanderung insgesamt.
Ultrarechte Unterstützer
Der örtliche BBC-Korrespondent erzählt, dass er unter den Leuten bekannte Gesichter aus der ultrarechten Szene erkennt, aus der auch der Mörder von Jo Cox stammte.
Judith Greenwood, 64 Jahre alt, und Mohamed Navi, 47, beobachten das Spektakel von der Bibliothek aus und sind gemeinsam entsetzt. „Dies ist eine friedliche Gegend“, beteuern beide spontan. Navi erklärt: „Ich bin ein Muslim und kann bestätigen, dass wir alle hier miteinander auskommen.“ Greenwood zitiert den berühmt gewordenen Spruch von Jo Cox. „Sie hätte gesagt: Wir haben mehr gemeinsam als das, was uns trennt.“
„Britain First!“ soll der Mörder von Jo Cox geschrien haben – der Name der im Internet aktivsten rechtsradikalen Gruppierung in Großbritannien. Das Klima im Land ist deutlich schärfer geworden: Viele Einwanderer aus der Slowakei, aus Polen oder Nigeria ebenso wie viele Nachfahren der in den 1950er und 1960er Jahren als billige Arbeitskräfte geholten Südasiaten in Batley berichten von rassistischen Sprüchen und der Aufforderung, „zurück in ihr Land“ zu gehen.
Zuletzt machte im September der Angriff auf einen jungen Polen in Armley, einem Viertel der benachbarten Metropole Leeds, landesweit Schlagzeilen. Ikram Ahmed, dem in Armley ein indischer Schnellimbiss gehört, berichtet von Jugendlichen, die „vor allem am Wochenende sinnlos in den dunklen Ecken rumhängen“ und nicht wüssten, was sie mit sich anfangen sollen.
Arm und ungebildet
Eine Lehrerin beobachtet, dass die Probleme bereits im Grundschulalter entstehen. Den Schulen fehlten Personal und Ressourcen, um daran etwas zu ändern. 34 Prozent der Bewohner West Yorkshires verfügen über keine oder nur niedrigste Ausbildung. Das Durchschnittsgehalt und die Produktivität sind hier im Vergleich zu ganz England am niedrigsten. Labour-Kandidatin Tracy Brabin verspricht, sie werde sich für die bestmögliche Ausbildung aller jungen Leute in ihrem Wahlkreis einsetzen.
Zugleich jedoch verdüstern sich die wirtschaftlichen Perspektiven. Der Supermarktriese Tesco hat erklärt, er wolle sein Betriebsrentenloch von umgerechnet 6,2 Milliarden Euro durch kürzere Öffnungszeiten reduzieren.
Das trifft auch 24-Stunden-Läden wie den in Batley. Schon jetzt wurde die 37-Stunden-Woche manch Angestellter auf 22 Stunden gesenkt, mit entsprechender Lohneinbuße. Und das ist nur ein Beispiel für die schwierige Situation auf dem örtlichen Arbeitsmarkt. Schon jetzt darf man gespannt sein, wer in Yorkshire dafür als Nächstes zum Sündenbock gemacht wird.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Greenpeace-Mitarbeiter über Aufrüstung
„Das 2-Prozent-Ziel ist willkürlich gesetzt“
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Rücktritte an der FDP-Spitze
Generalsekretär in offener Feldschlacht gefallen
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Iran als Bedrohung Israels
„Iran könnte ein Arsenal an Atomwaffen bauen“
Keith Kelloggs Wege aus dem Krieg
Immer für eine Überraschung gut