Wahlkampf in Schweden: Ist das Volksheim morsch?
Am Sonntag wählen die Schweden einen neuen Riksdag. Wie sieht es aus im Land des einstigen „Volksheims“? Ein Besuch in der Provinz.
VÄXJÖ taz | Ein milder Spätsommertag, die Landschaft von Småland trägt noch Laub, die Seen rund um die Hauptstadt Växjö sind schon kühl. Auf dem Catwalk der „Grünsten Stadt des Landes“, wie die Eigenwerbung auf Schildern stolz verkündet, geht es gediegen aufgeräumt zu: Auf der Gogatan reiht sich übersichtlich ein Geschäft ans nächste, viele Klamottenläden, zwei Kioske, ein Uhrmacher, ein Buchladen, ein altes Kino und einige Restaurants. Auffällig im Vergleich zu sonst ist nur, dass in der Mitte der Fußgängerzone Holzhütten stehen, allesamt in gebührendem Abstand – die ganzen 400 Meter lang. Es sind die Buden der politischen Parteien, die sich dort erklären.
Sonntag wird gewählt, da gibt es viel zu erläutern und zu werben: bei den Moderaten, der Centerpartiet, den Kristdemokraterna, die Folkpartiet liberalerna, schließlich, aus dem größten Häuschen heraus, die Sozialdemokraten, danach die Grünen, die Miljöpartiet, dann Vänsterpartiet, die einstigen Eurokommunisten – und ganz am Ende, schon jenseits einer rege genutzten Straße, die Kommunisten, die sich auf einer wehenden Fahne als „100 Prozent links“ ausweisen.
Davon abgesehen, dass die Kommunisten keine Chance haben, die 4-Prozent-Hürde für den Stockholmer Reichstag zu überwinden, fehlt in der sortierten Reihe der Parlamentsparteien eine. Von der wird viel erwartet, sie ist das Phantasma des politischen Lebens in Schweden, von ihr weiß niemand genau, wie viel Zustimmung sie am Wahltag erreichen kann: die Sverigedemokraterna – die rechtsradikalen Populisten, die vor vier Jahren immerhin 20 der 349 Sitze eroberten. Zu sehen sind sie nicht.
Aus dem Einkaufszentrum wird eine ungewöhnliche Gruppe herausgespült, die ziemlich forsch Richtung Wahlhütten marschiert. Sie haben etwas vor, sie flanieren nicht, sie wollen wissen: Es ist ein Pulk von frischen Einwanderern, Flüchtlingen, Neuschweden. Männer aus Afrika, Frauen aus dem arabischen Raum – und mittendrin ein ziemlich blonder Mann in den Dreißigern, Tomas Staaf vom Bildungsträger Hermods. Bei den Grünen bleiben sie stehen – und beginnen die drei Häuschenbewohner zu befragen. Staaf, Pädagoge mit Verwaltungserfahrung, erklärt: „Wir lernen gemeinsam. Die Hälfte des Tages bekommen diese Menschen Schwedischunterricht, den Rest der Zeit verbringen wir mit praktischen Übungen für den Alltag.“
Wann? Sonntag – für den Reichstag und die Kommunalparlamente.
Spitzenkandidaten: Fredrik Reinfeldt (Moderate) und Stefan Löfven (Sozialdemokraten).
Ergebnis 2010: Sozialdemokraten 30,7 Prozent, Moderate 30, Grüne 7, Liberale Volkspartei 7, Center 6,6, Linke 5,6, Christdemokraten 5,6, Schwedendemokraten 5,7.
Koalitionen: Üblicherweise wird nach Blocklogik regiert (rot-rot-grün oder konservativ-liberal); Minderheitsregierungen sind normal - auch die jetzige Regierung verfügt nicht über die absolute Mehrheit der Mandate.
EU: Schweden versteht sich als europäisch – will aber auf keinen Fall den Euro einführen.
Schwedendemokraten: Werden von allen anderen offiziell gemieden – sie gelten als rassistisch und antieuropäisch. Gelegentlich alliieren manche Parteien mit ihr bei Abstimmungen.
Hätten sie nicht auch Lust, bei den Schwedendemokraten vorbeizuschauen? „Ich weiß nicht“, sagt er, „aber die haben keinen Stand – man hört, sie hätten keine Lust, dass ihr Häuschen Nacht für Nacht auseinandergelegt wird.“ Die Fragen der Gruppe sind im Schwedischunterricht vorbesprochen: Wie seht ihr das mit der Flüchtlingspolitik? – Habt ihr eine Idee, in Schulen noch mehr Förderprogramme aufzubauen? – Und, am wichtigsten offenbar: Wo sollen Arbeitsplätze herkommen für uns – und wo? Die grüne Wahlkämpferin sagt erstaunlicherweise das Gleiche wie später auch alle anderen Parteien, egal ob sie zur konservativ-liberalen Regierung Fredrik Reinfeldts gehören oder zur Opposition aus Sozialdemokraten und Linken: Nein, Schweden wird sich nicht abschotten; ja, die Schulen müssen besser ausgestattet werden; und, ja, Jobs müssen her – und für Menschen ohne besondere Ausbildung, die Grüne schüttelt bedauernd den Kopf, gibt es die wohl in der Nahrungsindustrie, in der Landwirtschaft, im Erntegeschäft, als Aushilfen.
Aus der Gruppe fragt es eher schüchtern zurück, es scheint, als wären sie umgehend schwedisiert worden: sachte im Ton, schüchtern im Fragen, zurückhaltend in allem. Wählen können sie ohnehin noch nicht: Niemand aus der Gruppe hat bereits die Staatsbürgerschaft, sagt Tomas Staaf, aber bestimmt werden sie viele wollen: „Je länger einer bleibt, desto stärker schlägt er hier Wurzeln.“ Und das sollen möglichst viele sein, so der Betreuer – „wenn sie es wollen“.
Växjö stellt keine Ausnahme in Schweden dar, was die Betreuung von Flüchtlingen und Einwanderern anbetrifft. Die potenziellen Neubürger werden auf die Kommunen im ganzen Land verteilt – von Ystad im Süden bis Haparanda im polarnahen Norden. Die Integrationsprogramme unterscheiden sich kaum: Schwedisch soll, ja, muss rasch gelernt werden – und der Schulbesuch der Kinder ist verpflichtend. Die schwedische Tradition der, nun ja, stark anschiebenden Erziehung zum Miteinander setzt sich hier fort.
Provinzhölle ade
Ein brennendes Thema – außer im Fokus der Schwedendemokraten – ist die Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik, wie es offiziell heißt, ohnehin nicht. Schweden ist immer auch ein Land der Asylchancen gewesen: Wer es hierhin schaffte, wurde integriert. Ministerpräsident Reinfeldt liebäugelte freilich vor wenigen Wochen mit den Schwedendemokraten. Wie diese monierten, seien die Kosten für die Flüchtlinge wirklich hoch – allzu hoch für den schwedischen Steuerzahler, wie Reinfeldt anführte. Bis weit in sein eigenes Koalitionslager hinein erntete er für dieses „Verständnis“ der unverhohlen populistischen Schwedendemokraten Kritik – faktisch war es ohnehin nur ein Flirt mit Stammtischatmosphären: Keine Partei, auch die Reinfeldts nicht, stellt ernsthaft die Aufnahme von Asylbewerbern infrage. Insofern sind die Geschichten Astrid Lindgrens, in Småland angesiedelt, auch immer solche aus einer vergangenen Welt: In Växjö sieht man nach Schulschluss zwar auch blonde Kinder, doch nicht nur vereinzelt Jugendliche, die in der Welt der Kinderbuchautorin nicht vorkamen: etwa die Mohammeds, Ayses, Faruks und Aminas.
Växjö vor 25 Jahren – das war eine Provinzhölle, in der es bestimmt auf jedem Friedhof fideler zuging. Man lebte noch im „Volksheim“, in der andere Parteien außer der sozialdemokratischen sich wie Monde um eine Sonne herum gruppierten. Man pflegte den wachsenden Wohlstand, betonte, wie der ermordete Ministerpräsident Olof Palme, den Kapitalismus nicht abschaffen zu wollen, weil man eine Kuh nur melkt und sie nicht schlachtet. Växjö, das ein Auswanderungsmuseum pflegt, um der vielen Hungernden und Emigranten Ende des 19. Jahrhunderts zu gedenken, ist erst durch die neuen Einwanderer modern geworden: Schicke Restaurants und Kebabimbisse in der Gogatan sind unternehmerische Projekte von Einwanderern, die in Dienstleistungsbranchen – Hotel, Gastronomie, IT – Karriere machten.
Unfrieden gibt es in Schweden hierüber nur vereinzelt – und Klagen über das verlorene Gestern drückt sich lediglich in monströs-blutigen Romanen von Henning Mankell, Arne Dahl oder Stieg Larsson aus: Horrorkabinette, die erfunden werden müssen, weil es sie im gewöhnlichen Alltag nicht gibt.
Schule ist ein wichtiges Thema
Was es aber gibt, ist eine starke und wachsende Zustimmung zu Steuererhöhungen, wie die Zeitungen Expressen und Aftonbladet melden. Die Konservativ-Liberalen unter Ministerpräsident Reinfeldt haben die gleiche Politik verfolgt wie ihre KollegInnen in anderen Ländern auch: Steuern senken – doch das Geld, das überwiegend den ohnehin Habenden zugute kam, fehlte schließlich an anderen Stellen. In Schulen etwa. Es war ein Eliten- und Mittelschichtswunsch, dem schon die Linken Ende der Neunziger folgten: die freie Schulwahl – und die Erlaubnis, private Schulen gründen zu dürfen. Die Konservativen haben diese Idee systematisiert, und zwar mit asozialen Folgen. Waren die Gemeinschaftsschulen traditionell mit Kindern aus allen Schichten gemischt, war es nun möglich, die eigenen Kinder von solchen aus ärmeren Verhältnissen fernzuhalten – indem man sie auf private Schulen unterbrachte. Die Folge der Segregation: Die Eliten bleiben unter sich.
In der Gogatan haben sich an diesem Tag Lehrer und Lehrerinnen an einem mobilen Stand versammelt: Mehr Mittel für die Schulen fordern sie, eine bessere Ausstattung. Linke, Grüne und Sozialdemokraten stimmen ihnen zu – die Liberalen und Konservativen wollen dies von der Budgetlage abhängig machen. In den vergangenen Tagen ist der prognostizierte Vorsprung der rot-rot-grünen Opposition um den SP-Kandidaten Stefan Löfven stark zusammengeschmolzen. Vielleicht schafft es Fredrik Reinfeldt doch, im Amt zu bleiben? Werden die Sozialdemokraten schlechter denn je abschneiden und erstmals unter die 30-Prozent-Marke kommen? Ernsthaft offen ist nur, wie die Schwedendemokraten abschneiden. Sammeln sie so viele Stimmen, dass die Sozialdemokraten mit Grünen und Linken es nicht zur Mehrheit bringen?
Die Rechtsradikalen, die so viel auf bürgerliche Ehrpusseligkeit Wert legen, öffentlich in Anzügen, nicht schwedisch leger auftreten: Sie leiden auf ihre Art auch. Neulich, keine Zeitung ließ sich diese Meldung entgehen, ist ein Schwedendemokrat ertappt worden, unter falschem Namen im Netz auf einer offen rassistischen Plattform gegen „Kanaken“ mitgegiftet zu haben. Aus der Parteizentrale in Stockholm hieß es nur „ein Albtraum“. Die ersehnten 10 Prozent – das wird wohl nichts.
In der Gogatan von Växjö kommt der Spaziergang zum Ende; manche haben Notizen gemacht. Tomas Staaf guckt zufrieden. Einer sagt, ein Afrikaner, der vor zwei Jahren aus Nigeria nach Schweden flüchtete, nächstes Jahr sei er Bürger des Landes, bestimmt. Sein Schwedisch klingt ziemlich gut. Wovon träumt er? „Eine Familie, ein gutes Leben. Und Arbeit, wo auch immer.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Spiegel-Kolumnist über Zukunft
„Langfristig ist doch alles super“
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Nachtcafé für Obdachlose
Störende Armut
Krieg in der Ukraine
„Weihnachtsgrüße“ aus Moskau