Wahlkampf in Hamburg: Und am Ende gewinnt St. Pauli
Vier Kandidaten, eine kalte Halle im Hamburger Süden und ein total unorthodoxes Konzept. Ein Ortstermin.
HAMBURG taz | Katharina Fegebank steht vor einer großen Lagerhalle. Ein Güterzug rollt in der Ferne vorbei, Scheinwerfer tauchen das Gebäude in grelles Licht.
Fegebank kennt die Szenerie aus dem Kino: Im gleichnamigen Film von Fatih Akin spielt die "Soul Kitchen"-Halle im Wihelmsburger Industriegebiet eine Hauptrolle. In Wirklichkeit beherbergt sie Kulturveranstaltungen und Partys.
Die rohen Wände mit Plakaten bedeckt, für Fotoausstellungen und gegen den Castor. Auf der Bühne stehen gestapelte Getränkekisten als Sitzgelegenheiten, vor jeder liegt ein Mikrofon.
Im Hintergrund: eine Luftbildaufnahme des Stadtteils.Fegebank, Landesvorsitzende der Grünen und Listenkandidatin bei den Wahlen an diesem Sonntag, soll an diesem Abend an einer Wahldiskussion teilnehmen.
"Youre in the Army now", dröhnt es aus den Lautsprechern: Die Musik haben Fegebank und ihre Mitdiskutanten ausgesucht, jeder zehn Lieblingssongs.
Die Armee der Zuschauer verfolgt an diesem Abend lieber das Bundesligaderby des HSV gegen den FC St. Pauli. Sieben Zuhörer verlieren sich im Saal zwischen Sofas und Stühlen.
Veranstalter Mathias Lintl, Brille und Pferdeschwanz, wartet, bis sich der Zuschauerraum wenigstens zur Hälfte gefüllt hat. "Heute gibt es keine Moderation, die steuernd eingreift", sagt er. "Keine Publikumsrunde, in der immer die gleichen Fragen gestellt werden.
Die Debatte ist allein den Kandidaten überlassen." Neben Fegebank nehmen Metin Hakverdi (SPD), Martina Kaesbach (FDP) und Jörn Frommann (CDU) Platz. Mit 33 ist Fegebank die jüngste auf der Bühne. Ihre Kollegen bestellen Bier, sie bleibt bei Saft: Bier und Wein möge sie nicht, "und hartes Zeug zu bestellen ist ja peinlich".
Der talkshow-typische Satz "Jetzt lassen sie mich doch mal ausreden!" fällt nur selten. Die Vier auf der Bühne argumentieren verständlich, dann wieder bemerken sie manchmal zu spät, wenn ein Thema eine Runde zu viel gedreht hat und das Publikum die Aufmerksamkeit verliert.
"Findet ihr das jetzt noch interessant oder sollen wir weitermachen?" - immer wieder ist es Fegebank, die das Gespräch lenkt.
"Wie gehts denn jetzt mit Wilhelmsburg weiter?", ruft ein Zuhörer mit Schnauzbart. Dafür gebe es einen zweiten Block, beruhigt ihn Fegebank, nach der Pause.
Sie zieht den Reißverschluss ihrer Jacke bis unters Kinn, es ist kalt hier. Am Tresen haben sich kleine Gesprächsgruppen gebildet. "Einsnull für Pauli!", gibt Veranstalter Lintl den Fußball-Zwischenstand bekannt. Kurz kommt etwas Jubel auf.
Hakverdi zündet sich genervt eine Zigarette an. Weit sei man ja nicht gekommen, sagt Fegebank. "Aber wir reden halt gern und sind keine Pantomimen."
Aus den Boxen fordern Deichkind lautstark "Krawall und Remmi Demmi". Warmtanzen wäre eine Idee, aber noch lieber scharen sich die Anwesenden jetzt um Glühweinausschank und die Gas-Heizpilze.
Man unterhält sich über Pauli und den HSV und darüber, dass die Linkspartei niemanden her geschickt hat. "Die auf der Bühne gehen sehr manierlich miteinander um", sagt eine Frau. "Eine lebendige Runde", sagt ihr Begleiter.
"Son Tüddelkram, da wohnen überall Leute!" CDU-Kandidat Frommann klopft auf das Luftbild von Wilhelmsburg. Er dreht nach der Pause richtig auf, als es um die lokalen Themen geht, um die Verlegung einer Hauptverkehrsstraße und die "Hafenquerspange", die einmal die Autobahnen 1 und 7 verbinden soll.
Auch das Publikum drängt nach vorne, kommentiert lautstark. "Fegebank, was geht?", grölen Jugendliche mit Kapuzenpulli und Bier von hinten. Die hält sich im zunehmend hitzigen Streit über Straßenverläufe und Gewerbegebiete zurück.
Während ihre Wilhelmsburger Kollegen immer heftiger diskutieren, sieht die Altonaerin auf ihr Handy: "Yeah! St. Pauli hat gewonnen!" - "Ach Schrott": Neben ihr verzieht Hakverdi sein Gesicht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin