Wahlkampf 98: Einzelkämpfer: „Hallo, hier bin ich!“
■ Zehn Einzelbewerber wollen als unabhängige Direktkandidaten in den Bundestag: Axel Silber tritt in Mitte/Prenzlauer Berg für „Chance 2000“ als Kanzlerkandidat für Behinderte an. Nur die Kanzlergattin fehlt ihm noch
Axel Silber ist behindert, mißt knapp einen Meter sechzig, wiegt 50 Kilo und möchte gerne Kanzler werden. Die Maße stimmen, doch das mit dem Kanzler macht er mehr „aus Spaß an der Freude“. Der 28jährige aus Lichtenberg, der stundenweise bei der Post unzustellbare Briefe bearbeitet, ist Realist. Der Mitbegründer von „Chance 2000“, der kürzlich mit am Wolfgangsee zum „Anti-Kanzler-Baden“ war, hofft, mit Tamtam auf die Belange von Behinderten aufmerksam zu machen. Deshalb tritt er neben Schlingensief, „dem Kanzlerkandidaten für die Allgemeinheit“, wie er es nennt, als „Kanzlerkandidat für Behinderte“ für „Chance 2000“ im Wahlbezirk Mitte/Prenzlauer Berg an. Weil keiner so über die Belange von Behinderten reden kann wie ein Behinderter, hat er sogar eine Anfrage der RTL-Serie „Marienhof“ nach einer Rolle als Behinderter sausen lassen.
Er weiß, daß seine Kanzleraussichten so unrealistisch wie blühende Landschaften im Osten sind. Und er weiß, daß Thierse und Pau, die Direktkandidaten von SPD und PDS im Wahlkreis 249, ernst zu nehmende Gegner sind. Bisher plant er lediglich eine Demo unter dem Motto „Gleichberechtigung für alle“. Für andere Aktionen fehlt das Geld. „Da muß ich mir noch etwas Geniales einfallen lassen“, räumt er ein. Doch er weiß auch: „Man muß sich was einfallen lassen, um etwas zu erreichen.“ Und Axel Silber will etwas erreichen: „Die Behinderten müssen sich aufraffen und ihren Hintern bewegen.“ Axel Silber, den seine Mutter zur
Selbständigkeit erzogen hat und der in seiner eigenen Wohnung außer Fensterputzen und Gardinenwaschen alles selber macht, hat die große Klappe und sagt auch warum: „Gerade in dieser Gesellschaft muß man schreien ,Hallo, hier bin ich!‘“ Manch einer mag ihn als penetrant empfinden. Doch wenn Menschen mit gerade gewachsenen Gliedmaßen den Mund voll nehmen, wird ihnen das auch nicht unbedingt zum Verhängnis. Axel Silber fordert gleiche Rechte für Seinesgleichen. Deshalb hat er 1.700 Unterschriften für die Partei und sich gesammelt.
Ging er anfangs nur mit sich selbst als Programm und dem Slogan „Ich möchte gerne Bundeskanzler werden“ auf Stimmenfang, hat er nun ein Programm. Darin geht es um Recht auf Arbeit für alle, Befreiung von Zuzahlungen für chronisch Kranke, Integrationsschulen- und kitas, kurz: „Jeder soll bekommen, was er zum Leben braucht.“ Außerdem sollen in allen Ministerien Behinderte sitzen, die dafür sorgen, daß Gesetze auch behindertengerecht sind.
Dem Vorwurf, Schlingelsief würde Leute wie Axel Silber nur benutzen, begegnet Silber wie ein gewiefter Wahlkämpfer. „Sicher benutzt er mich, aber ich mache mir dafür seine Prominenz für meine Dinge zunutze.“ Etwas Neid kommt nur auf, wenn er sieht, wieviele Heiratsanträge Schlingensief mit seiner wachsenden Parteipopularität bekommt. „Schreibe, daß ich noch eine Kanzlergattin brauche“, bittet er. Zeit zum Kennenlernen bleibt genug. Denn Axel Silber weiß: „Es wird bestimmt noch etwas Zeit ins Land gehen, bis ich Kanzler werde.“ Barbara Bollwahn
Wird fortgesetzt
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