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Wahlabend bei Offenbacher MigrantenBürger erster Klasse

Die Mitglieder des Türkisch-Deutschen Clubs Offenbach haben erlebt, das Hessens Union unterscheidet zwischen "richtigen Deutschen" und Deutschen wie ihnen.

Ungeliebte Bückware: Am Ende zahlte sich Kochs fremdenfeindliche Kampagne nicht aus. Bild: dpa

OFFENBACH taz Soll sie sich nun freuen? Ezhar Cezairli zögert. Sie weiß nicht recht. Seit Wochen hat sie gebangt, ob Roland Koch auch dieses Mal punkten würde mit seiner Kampagne gegen Ausländer in Hessen. In den ersten Hochrechnungen am Wahlabend sah es noch so aus, als wäre die CDU mit ihrer Strategie fulminant gescheitert. Und jetzt? "Na ja", sagt die Vorsitzende des Türkisch-Deutschen Clubs in Offenbach, "jetzt liegt die CDU doch ganz knapp vor der SPD." Schade, dass es nicht andersherum gekommen ist. "Das wäre ein noch deutlicheres Signal gewesen."

MIGRANTEN FROH

Die Türkische Gemeinde in Deutschland (TGD) hat sich zur Wahlniederlage des hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch (CDU) geäußert: "Ich bin erleichtert und froh, dass es dem Populisten Roland Koch nicht gelungen ist, mit seiner ausländerfeindlichen Kampagne die Wahlen zu gewinnen", erklärte der TGD-Bundesvorsitzende Kenan Kolat. Zugleich gratulierte er dem niedersächsischen Regierungschef Christian Wulff (CDU). Kochs Wahlkampf hatte die Türkische Gemeinde mit Kampagnen der rechtsextremen NPD verglichen und deshalb zur Abwahl des CDU-Politikers aufgerufen. "In Hessen ist eine Ära beendet worden, in der es möglich war, mit ausländerfeindlichen, stigmatisierenden und ethnisierenden Strategien Wahlen zu gewinnen", erklärte Kolat. "Dazu haben viele Deutsche mit Migrationshintergrund beigetragen."

Kolat appellierte an Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), aus diesem Wahlergebnis die erforderlichen Konsequenzen zu ziehen und Politiker wie Roland Koch nicht mehr zu unterstützen.

Es ist Montagmorgen kurz vor neun. Gerade hat Ezhar Cezairli noch mal die Wahlergebnisse im Radio angehört, gleich muss die Zahnärztin los zu ihrer Praxis in der Frankfurter Innenstadt. Denn die Patienten wird es kaum trösten, dass Frau Doktor persönlich noch immer über diesen Wahlabend nachgrübelt.

Was für ein Abend das aber auch war. Bei Tee und Keksen haben sie beisammengesessen und auf die Großbildleinwand gestarrt: Ezhar Cezairli, ihr Mann, die 14-jährige Tochter und ein gutes Dutzend Freunde aus dem Türkisch-Deutschen Club. Eine erlesene Runde, die sich auf wuchtigen Ledersofas im Vereinsraum an der Ausfallstraße zwischen Frankfurt und Offenbach versammelt hat. Ingenieure, Geschäftsleute, Volkswirte und Ärzte - aus dem ganzen Rhein-Main-Gebiet sind sie angereist. Frauen in engen Jeans, Männer in feinen Wollpullis. Allesamt türkischer Herkunft, fast alle inzwischen mit deutschem Pass.

Vor ein paar Monaten noch hätten sie hier für ganz unterschiedliche Parteien gefiebert - einige auch für die CDU. Aber diese Zeiten sind vorbei.

"Ich weiß, dass unter uns heute Abend mindestens ein CDU-Mitglied sitzt", erklärt Ezhar Cezairli, gerade baut sich auf der Leinwand die zweite Hochrechnung des Abends auf. "Aber dieses Mal - da hat niemand in diesem Raum die CDU gewählt. Das ist sicher. Dass der Roland Koch verlieren soll, darin sind wir uns einig."

Sie müsste das gar nicht erklären. Man hört es ohnehin an den Reaktionen. Eine Frau in der Runde hat sich bis vor kurzem dafür engagiert, ein deutsch-türkisches Forum in der hessischen CDU aufzubauen. Jetzt ruft sie bei Kochs Anblick: "Diese Rassisten müssen weg!"

Binnen weniger Wochen ist Koch zur Unperson geworden für die Mitglieder des Türkisch-Deutschen Clubs. Nicht etwa, weil sie hier in der früheren SPD-Hochburg Offenbach, einer Stadt mit rund 30 Prozent Ausländeranteil, generell gegen die Union wären. Sie verstehen sich als säkulare Muslime, sprechen makelloses Deutsch. Auch die Frauen machen selbstverständlich Karriere, Bildung und Leistungsbereitschaft werden hochgehalten. Gerade die Geschäftsleute aus dem Verein haben nichts gegen eine liberale Wirtschaftspolitik. Und viele bemühen sich seit Jahren mit dem Verein um eine bessere Integration der Migranten.

Ezhar Cezairli, 1972 als Gastarbeiterkind ohne ein Wort Deutsch aus der Türkei ins Land gekommen, redet sogar als Vertreterin der säkularen Muslime bei der Islamkonferenz von Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble mit. Kochs Wahlkampf aber habe vieles kaputtgemacht, wofür sie auch gemeinsam mit CDU-Politikern gestritten hat, sagt die Zahnärztin.

Für die Medizinerin, Jahrgang 1962, barg die Kampagne auch persönlich eine bittere Botschaft. "Die CDU in Hessen will immer noch unterscheiden zwischen richtigen Deutschen und Deutschen wie mir." Richtig wütend hätten ihre Kinder darauf reagiert, auch sie hätten jetzt das Gefühl, als Bürger zweiter Klasse in Deutschland zu gelten, obwohl sie hier geboren sind. Sie habe sich einiges anhören dürfen daheim - was, will die Ärztin lieber nicht wiederholen vor der Presse. "Ich beobachte mich plötzlich dabei, wie ich Deutschland verteidige vor meinen Kindern - obwohl die doch hier geboren sind", seufzt sie. An sich hat sie nichts dagegen, über kriminelle Jugendliche zu diskutieren. Aber: "Das ist ein Unterschichtenproblem, keine ethnische Sache."

Ihr Bekannter Tunca Karakas ist in Offenbach aufgewachsen, er führt als Internist eine Praxis in Wiesbaden. Sein jüngerer Sohn verschläft gerade das Wahlfinale auf der Couch vor der Leinwand, der ältere flitzt fröhlich um die Ledersessel. Prinzipiell, sagt Karakas, gäbe es für ihn überhaupt keinen Grund, die CDU nicht zu wählen. Doch wie solle sich ein Deutscher türkischer Herkunft für eine Partei begeistern, die mit Stimmungsmache gegen Einwanderer punkten will? "Da war ja selbst George Bush bei seinem letzten Wahlkampf schon weiter als die hessische CDU heute", sagt Karakas sauer. "Bush hat immerhin um die Hispanics in den USA geworben."

Warum, fragt er sich, bemüht sich die CDU bis heute nicht um die Stimmen der Migranten? Schließlich werde deren Bevölkerungsanteil weiter steigen - und gerade Einwanderer neigten doch immer noch zu wertkonservativen Einstellungen.

Ein Raunen geht durch den Vereinsraum, als in der 19-Uhr-Hochrechnung die Linkspartei erstmals über die 5-Prozent-Marke rutscht. Alle wissen: Die Linke im Landtag wäre das Aus für Schwarz-Gelb, das Aus für Koch. Genau das also, was sie sich wünschen. Karakas lacht laut auf. "Wissen Sie", sagt er dann, "ich hätte nicht gedacht, dass ich mich eines Tages darüber freuen könnte, wenn die Linke es ins Parlament schafft!" Er schaut ratlos.

Längst nicht alle im Türkisch-Deutschen Club sind Fans von Andrea Ypsilanti. Einigen ist sie viel zu links, andere stoßen sich an ihrem Gerede über die Leistungen der "Genossen". Es ist ein anderes Ergebnis, das Ezhar Cezairli und ihre Freunde mit dieser Landtagswahl versöhnt, egal, wer am Ende letztlich in der Regierung sitzen wird. Dieser Wahltag ist für sie eine Probe, wie es die Hessen wirklich halten mit Toleranz und Dialog und Integration. Diese Probe haben sie bestanden. "Zum ersten Mal hat diese Partei mit einer ausländerfeindlichen Kampagne eine Wahl verloren", sagt Tunca Karakas zufrieden. "Das allein ist schon ein historisches Ergebnis."

Zumindest für dieses Resultat kann sich auch Ezhar Cezairli am Morgen nach der Wahl noch wirklich begeistern. "Die hessischen Wähler haben sich nicht mehr so wie früher auf diese angstschürende Kampagne eingelassen", sagt sie. "Das macht mir heute Mut." Dann muss sie sich entschuldigen. Sie muss jetzt wirklich los, die Patienten warten.

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