Wahl in Großbritannien: Doch keine Drinks for free
Am Wahlabend trinken linke Londoner*innen aus Frust in der Kneipe „Beast of Brixton“. Im wohlhabenden Kensington gab es eine Überraschung.
Punkt 22 Uhr läuft die gemeinsame Wahlprognose aller Fernsehsender: ein Riesensieg für Boris Johnson, eine Mehrheit von 86 Sitzen. Das Publikum hat sich verschätzt. Statt dass es sich wie geplant mit Wodka und Whisky betrinkt, bricht Verzweiflung aus.
James Duke-Evans sagt, er könne jetzt aus Frust trinken, bis er tot umfalle. „Wir Briten sind ein Dildo mit Stacheldraht geworden“, schimpft der Wirt und meint, dass das Land sich und anderen nur Schaden zufüge.
„Ich bin verzweifelt“, ergänzt ein Bargast. Eine junge Frau sagt, jetzt komme der Ausverkauf Großbritanniens und seines Gesundheitssystems an die USA. Beide haben Labour gewählt.
Richard Rice aus Camberwell ist seit dem Brexit-Referendum Liberaldemokrat und war im Wahlkampf aktiv. „Wir haben Fehler gemacht, am Anfang und am Ende der Kampagne.“ Zum Beispiel die Ansage, man werde im Fall des Wahlsiegs den Brexit-Antrag einfach widerrufen, ohne neues Referendum.
Alle im Beast of Brixton sind sich einig: Jetzt braucht Labour eine neue Führung. Und wen? Keir Starmer wird genannt, Labours Brexit-Schattenminister, ehemaligter britischer Generalstaatsanwalt und Abgeordneter in Nordlondon. Der hätte das Zeug, klar und effektiv rüberzukommen, glauben sie. Er behält später sogar seinen Wahlkreis.
Weltuntergangsstimmung ab ein Uhr morgens
Im Obergeschoss der Kneipe feiern zufällig die Autor*Innen der South London Writers Group ihre Weihnachtsfeier. Auch unter ihnen gibt es keinen einzigen Konservativen, dafür eine Tiefenanalyse dieser Wahl. „Das Wohl vieler Briten hängt zu sehr an Privatinvestitionen, und das macht viele bezüglich Labour nervös“, sagt ein 50-jähriger Liberaldemokrat.
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Ein jüngerer Labour-Wähler ist von Corbyn enttäuscht: „Unter meinen linken Freunden konnte ich beobachten, wie sie sich schwertaten mit Corbyn, obwohl sie Labour eigentlich unterstützen. Es geht um seine Unterstützung der IRA, der Hamas und des Iran, und darum, dass er Palästinenser Juden vorzieht. All das geht vollkommen gegen den nationalen Konsens, der immer noch recht patriotisch geprägt ist, mit den Briten als Bollwerk gegen Hitler.“
Ab etwa ein Uhr morgens herrscht Weltuntergangsstimmung in der Kneipe. Der konservative Wahlsieg wird immer deutlicher.
In einem anderen Stadtteil Londons geht es gerade erst los. Im Rathaus des Bezirks Kensington and Chelsea wird eifrig gezählt. Während Brixton zumindest früher der Inbegriff einer armen Einwanderergegend war, ist dieser Westlondoner Bezirk einer der reichsten des Landes, voller Millionäre – und mit einigen Sozialsiedlungen, darunter der mit dem berüchtigten Grenfell Tower, der wenige Tage nach der Wahl 2017 ausgebrannt war.
Damals gewann die Labour-Politikerin Emma Dent Coad überraschend den traditionell konservativen Wahlkreis Kensington mit 20 Stimmen Vorsprung. Wie geht es diesmal aus?
Der Wahlleiter muss nochmal zählen
Alex Machett, 28, er trägt ein rotes T-Shirt der Corbyn-unterstützenden Bewegung Momentum, ist guter Dinge. Er sagt, Labour habe sich verändert. „Der Schwerpunkt der Partei hat sich auf die urbanen Gegenden verlagert, wo junge Unterstützer hinter uns stehen.“ Aber auch er kennt das landesweite Ergebnis. Corbyn werde wohl gehen müssen, gesteht er, obwohl Leute wie er nur wegen Corbyn zu Labour stießen.
Im Raum neben der Auszählung sitzt Yvette Williams von der Kampagne Justice for Grenfell, zusammen mit einigen Überlebenden des Hochhausbrands, in dem 72 Menschen umkamen. Einige der Überlebenden sagen, dass sie den Konservativen nicht trauen wegen der Art und Weise, wie sie auf den Brand reagiert haben. Williams trägt sogar einen Labour-Anstecker an diesem Abend. Was Kensington betreffe, sei sie zuversichtlich.
Gegen drei Uhr in der Früh kommt Bewegung in die Auszählung. Der Wahlleiter erklärt, der Abstand zwischen den zwei Parteien betrage nur 150 Stimmen. Man werde zur Sicherheit noch mal zählen. Eine Stunde später ist es dann so weit. Als alle Kandidat*innen zur Ergebnisverkündung auf der Bühne stehen, fehlt die Labour-Kandidatin Emma Dent Coad. Etwa fünf Minuten später erscheint sie, spontaner Applaus. Dent Coad hebt ihre Arme – kennt sie das Ergebnis schon?
Dann aber liest der Wahlleiter die Zahlen vor. Felicity Buchan, Konservative: 16.768 Stimmen. Emma Dent Coad, Labour: 16.618 Stimmen.
„Ich danke meinem hervorragenden Team und allen, die an mich geglaubt haben“, beginnt Buchan. Die konservative Siegerin betont, sie sei für alle in Kensington da, um sie zusammenzubringen.
Auch die unterlegene Dent Coad kommt zu Wort. „Lasst uns hoffen, dass Anständigkeit und Ehrlichkeit weiter im Amt bleiben.“ Als die Medien endlich Zugang zu den Politikerinnen bekommen, läuft Dent Coad schnell weg. Ein Labour-Mitglied faucht die hinterherlaufenden Journalist*innen, die vier Stunden auf ein Interview gewartet haben, an: „Emma ist krank und kann jetzt kein Interview geben.“
Jeden Monat gibt es Schweigemärsche
Sogar Yvette Williams von der Grenfell-Kampagne ist nicht mehr sehr gesprächsbereit, als sie das Rathaus verlässt. „Wir haben heute einige sehr gute Leute verloren und müssen jetzt einiges neu erwägen“, erklärt sie vollkommen verdutzt und betroffen mit einer Zigarette im Mund. Auch sie ist der Meinung, dass der Wahlkampf der Liberaldemokraten Labour den Sieg genommen habe.
„Den Leuten war die Abwehr von Corbyn wichtiger als ihre Remain-Stimme“, sagt der konservative Gemeinderat Greg Hammond.
Die neue Abgeordnete Felicity Buchan nennt im Interview mit der taz ihre Prioritäten: Ein Freihandelsabkommen mit der EU, mehr Wohnungen, Investitionen in das Gesundheitssystem und in die Polizei, die Senkung der Kriminalität, den Kampf gegen Luftverschmutzung und die Regeneration der Einkaufsstraße. Und: Konsequenzen aus den Ergebnissen der Grenfell-Untersuchung.
Am Samstag wird es in Kensington wieder einen der allmonatlichen Schweigemärsche zu Ehren der 72 Todesopfer geben. Es ist die erste Möglichkeit für Buchan, zu zeigen, dass sie es ernst meint.
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