Wahl in Ägypten: So viel Neues
Bei den ersten Wahlen nach dem Sturz von Mubarak strömen die Menschen an die Urnen. Sogar der Tahrirplatz leert sich vorübergehend.
KAIRO taz | In Abagiya, einem Kairoer Viertel am Fuße des Muqattam-Berges, unweit der Zitadelle Saladins und dort, wo einst die Quader für die Pyramiden aus dem Felsen geschlagen wurden, liegt die staatliche Schahid-Said-Schule. Am Eingang des Wahllokals trifft das alte Ägypten auf das neue.
Denn neu sind definitiv die langen Schlangen der Wähler, die vor der Schule geduldig darauf warten, meist zum ersten Mal in ihrem Leben ihre Stimme abzugeben. Neu ist auch, dass sich der Polizeioffizier beim Anblick des Presseausweises ratlos nach dem Armeeoffizier im Hintergrund umsieht. Der muss sich erst einmal absichern, wie die Befehlslage ist und dann, und das ist wiederum das alte Ägypten, passiert lange nichts mehr.
Neu ist auch, dass man als Journalist dem Offizier drohen kann, über Facebook und Twitter einen Skandal zu schlagen, weil hier die Arbeit behindert wird. Und dass der Armeeoffizier in seiner olivgrünen Uniform daraufhin nachgibt. Drinnen, dort wo die Urnen stehen, wacht ein Richter im grauen Anzug und gewährt ohne zu Zögern Einlass.
Egal, wen man in der Schlange fragt, die Antworten sind stets gleich. Es sei ein glücklicher Tag und man sei stolz, erreicht zu haben, jetzt hier in der Schlange zu stehen, um erstmals frei und demokratisch zu wählen.
"Die Muslimbrüder sind nicht so schlimm"
Muhammad Khalil ist so ein Erstwähler. Er ist gekommen, weil nach dem Wahlbetrug unter Mubarak diesmal jede Stimme gezählt werde. Der 22-jährige Student hat sich eine Strategie zurechtgelegt. Seine Listenstimme wird er einer der neuen liberalen Parteien geben, schließlich, so sagt er, waren es diese Jugendlichen, die die Revolution angestoßen haben, und dafür will er sie belohnen. Als Direktkandidaten wählt er zwei Muslimbrüder, weil er sie kennt und glaubt, dass sie gute und ehrliche Arbeit machen. "Die sind nicht so schlimm, wie ihr glaubt", lacht er.
Israa Said, Studentin an der Universität Kairo, Kopftuchträgerin mit Sommersprossen, hat im Internet die Wahlprogramme der Parteien und den Hintergrund der Kandidaten recherchiert. Sie musste immerhin unter 40 Parteien auswählen. "Es kann sein, dass die Menschen bei diesen Wahlen vielleicht für die falschen Kandidaten stimmen, weil viele Parteien und Individuen einfach noch nicht bekannt sind", glaubt sie, um dann zuversichtlich hinzuzufügen: "Aber aus diesen Fehlern werden wir für unsere Zukunft lernen."
Der Wähler Adel Radwan hat eine kleine Firma. "Das ist eine völlig neue und tolle Erfahrung, hier zu stehen, mit dem Gefühl, dass diesmal nicht betrogen wird", sagt er, nachdem er nach zweistündigem Warten endlich an der Urne angekommen ist. Er wird für die Freiheit- und Gerechtigkeitspartei der Muslimbrüder stimmen, weil diese, wie er sagt, "gemäßigt" seien. Im Westen solle man keine Angst vor ihnen haben.
Der Offizier hatte keine Befehle
Mubarak habe sie jahrelang als Schreckgespenst genutzt, diese Zeiten sollten vorbei sein, meint er. Die meisten in der Schlange wollen für die Muslimbrüder stimmen, glaubt man jenen, die über ihre Wahlentscheidung sprechen. Eine junge Frau flüstert hingegen, dass sie für den liberalen Ägypten-Block stimmen werde.
Dann kommt noch einmal der Armeeoffizier, um zu erklären, dass er keine Befehle gehabt habe, wie er mit Journalisten umgehen soll. Also hatte er erst einmal sicherheitshalber den Eingang zum Wahllokal verweigert, ganz wie früher. Dann steckt er zum Abschied und zur Versöhnung die Hand aus und entschuldigt sich. Das ist das Neue.
Am Tahrirplatz steht der 24-jährige Muhammad Yunis. Er geht heute nicht wählen, weil er die Wahlen für eine Farce hält. Zu viele Menschen seien in den letzten Tagen bei Auseinandersetzungen mit Polizei und Militär gestorben, das Parlament sei letztlich nur eine Marionette des obersten Militärrates, der im Hintergrund weiter die Fäden ziehe, glaubt er. "Verändern wird sich nur etwas, wenn der Militärrat sein Macht abgibt, und so lange werde ich auf dem Platz bleiben."
Während er das alles sagt, steht er auf einem relativ leeren Tahrirplatz. Die meisten Demonstranten sind kurz einmal weg, um sich in den langen Schlangen vor den Wahllokalen anzustellen. Am Abend, so haben die meisten versprochen, werden sie wiederkommen, mit einem Finger voller nichtabwaschbarer Tinte, dem Zeichen, dass Protestieren und Wählen für sie kein Widerspruch ist.
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