Voyeurismus via Überwachungskamera: Ich kann dich streamen
Viele Menschen sichern ihre Überwachungskameras nicht mit einem Passwort. Wer will, kann ihnen beim Arbeiten, Fernsehen oder Bügeln zugucken.
Der Mann und seine Frau frühstücken am Esstisch. Er mit Kaffee, sie ohne, dann räumt er ab. Um Punkt 9 Uhr macht eines der Kinder den Fernseher an. Das Haus in Nordfrankreich, in dem sie wohnen, ist hell. Große Fenster gehen hinaus zur Terrasse. Manchmal bügelt der Mann davor. Dass die Familie selbst in all diesen friedlichen Momenten beobachtet wird, weiß sie nicht.
Kameras sollen Menschen oder Eigentum schützen, das ist meistens die Motivation, die Geräte aufzustellen. Um das Heim oder auch nur die Garageneinfahrt immer im Blick zu haben, verbinden ihre Besitzer die Kameras mit dem Internet. Doch nicht alle – wissentlich oder nicht – sichern diesen Stream durch ein Passwort.
Währenddessen surfen die Google-Roboter das Internet ab. Die Kamerastreams lassen die Roboter dabei nicht aus. So können Tausende offene Cams mit den richtigen Stichworten gefunden werden. Ein Großteil der Kameras zeigen Straßenzüge oder Landschaften, ähnlich dem Ausblick einer Wetterstation. Doch mit etwas Glück findet man ebenfalls Einblicke in Büros und Privatwohnungen – Wohnzimmer wie das der französischen Familie.
Plattformen wie „Opentopia“ sammeln diese Streams. Dort können andere User live mitgucken, sich eine Animation der vergangenen Stunden anzeigen lassen – und kommentieren. Das Wohnzimmer der französischen Familie wurde sich schon rund 45.000 Mal über „Opentopia“ angeschaut.
Blick in Kinderzimmer in Südkorea
„Frauen, brennt einmal einen Abdruck in sein Lieblingsshirt und ihr müsst nie wieder bügeln“, kommentiert eine UserIn den bügelnden Familienvater. In der Kommentarspalte unter dem Stream der Familie entfacht eine Debatte über die Notwendigkeit von Hausarbeit. Geht man den Verlauf zurück, machen sie die User über die Bewohner lustig oder beschweren sich über den Weihachtsbaum mit Kunstschnee, der den Blick auf den Esstisch verdeckt.
Auf Opentopia sind über 2.000 offene Kameras abrufbar. Es gibt unter anderem Einblicke in das Wartezimmer einer amerikanischen Arztpraxis, eine Schweizer Metzgerei, eine Uni-Bibliothek in Texas, in der man den Studierenden direkt auf den Bildschirm blicken kann, oder ein sehr unaufgeräumtes Kinderzimmer in Südkorea. Manchmal fallen Streams aus. Einige verschwinden nur für kurze Zeit, wegen Problemen mit dem Internet, andere für immer, wenn die Besitzer sie mit Passwort sichern oder die Kamera demontieren.
So auch seit 147 Stunden die Kamera des Rentnerpaares, sie ist aus. Im Wohnzimmer guckten sie zusammen fern, jeden Abend saß die Frau bis in die tiefe Nacht immer auf dem gleichen Platz des Sofa, las oder schlief. Florale Muster auf der Tapete und der Tischdecke und frische Blumen in der Vase verschönerten den Raum. Die Möbel waren hochwertig. Manchmal setzten sich Angestellte, Pfleger zu den Bewohnern und tranken gemeinsam Kaffee.
Doch was ist es, das die Menschen die offenen Kameras verfolgen lässt? Denn objektiv gesehen, egal ob im Büro oder im Wohnzimmer – viel passiert nicht. Die Beobachteten essen, trinken, gehen durch den Raum und sitzen wahlweise vorm Computer oder Fernseher. „Der heimlich beobachtende Blick richtet sich auf die Aufdeckung eines Geheimnisses“, schreibt die Psychologin Elke Rövekamp in ihrem Buch „Das unheimliche Sehen“. Die Minikamera erscheine als technische Variante und Erweiterung des mythologischen Motivs der Tarnkappe oder eines unsichtbar machenden Ringes. Der Beobachter wartet und hofft, etwas zu entdecken, was er nicht sehen darf.
Arbeitnehmer können gegen Kameras klagen
Menschen ohne ihr Wissen zu beobachten ist mit den offenen Kameras legal. Illegal kann es jedoch für den Arbeitgeber sein, der die Kameras aufstellt: „Je mehr Leute auf das Videomaterial zugreifen können, desto größer ist die Verletzung des Persönlichkeitsrechts“, sagt Ver.di-Jurist Christian Götz. In Deutschland seien die Arbeitsrechte besonders geschützt. Eine Überwachung der Arbeitnehmer sei nur gerechtfertigt, wenn sie begründet ist, wie in Geschäften zur Diebstahlaufklärung.
Doch selbst dann muss jedoch der Betriebsrat, wenn es einen gibt, zustimmen und die Arbeitnehmer informiert werden. „In Büros ist Überwachung überhaupt nicht zulässig“, sagt Götz. Natürlich variieren die Gesetze in verschiedenen Ländern, im europäischen Raum sind die Regelungen zum Schutz der Arbeitnehmer jedoch ähnlich. Die Arbeitenden könnten klagen, doch viele haben Angst.
Ob die jungen russischen Frauen informiert wurden, dass sie gefilmt werden, ist unklar. In dem anonymen Büro stehen mehrere Schreibtische, Leuchtstoffröhrenlicht, Papier stapelt sich, Menschen sitzen vor ihren Computern – Arbeitsalltag. Doch unter dem Stream ist der Ton ein anderer: „Die Dunkelhaarige ist so heiß in ihrem weißen Outfit“, „Das ist nicht Großbritannien, die Frauen sind nicht fett genug“, „Sie sollten einen Badeanzug-Tag im Büro einführen“.
Was wir umgangssprachlich „Spannen“ nennen, wird in der Sexualforschung als „Voyeurismus“ bezeichnet. Ganze Porno-Genres widmen sich dem Voyeuristen, eine der am häufigsten besuchten offenen Kameras auf Opentopia stand in einem russisscher Stripclub, wo halbnackte Frauen Drinks mixten. Ende 2013 wurde sie abgeschaltet, trotzdem erscheint die Kamera immer noch zeitweise auf der Liste der meistgeklicktesten Streams. Auch die im vergangenem Jahr verstorbene Psychologin Rövekamp sucht in ihrem Buch weitere Erklärungen für die Lust am Schauen, vor allem in Freuds Tiefenpsychologie. Dieser unterscheidet in seiner Theorie der Phasenlehre zwischen dem oralen und analen Blick.
Der Voyeur will kontrollieren
Die orale Logik des Blicks beziehe sich auf Fantasien, in denen sich das Auge „geradezu wie ein Mund gebärdet“ – das Auge also verleibt sich das Objekt ein und identifiziert sich damit. Die anale Logik des Blicks sei durch eine symbolische Verbindung von Auge, Anus und Fantasien charakterisiert, schreibt Rövekamp, in denen das Sehen mit der Kontrolle und Beherrschung des Objekts assoziiert ist. Zusammengefasst: Der Beobachter identifiziert sich mit dem Beobachteten, gleichzeitig hat er das Gefühl, ihn zu kontrollieren.
Seit der Stream des Rentnerpaares weg ist, machen sich die Nutzer auf Opentopia Sorgen: „Die Frau sah die vergangenen Tage nicht gut aus, sie lag die ganze Woche nur auf dem Sofa.“ Die Beobachter haben die Kontrolle verloren. „Schlimm, dass wir nicht wissen, was passiert ist“, schreibt ein anderer. „Vielleicht ist die Frau im Krankenhaus. Ich hoffe, sie ist nicht gestorben.“
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