: Vorschlag
■ Erinnerung als Labyrinth: Tanztheater im Wasserspeicher
Wie erinnert die Generation, die selbst den Krieg nicht mehr erlebt hat, dessen Ende vor fünfzig Jahren? Unter dieser Fragestellung erarbeitete das Büro für Kulturvermittlung eine Ausstellung mit Werken junger bildender Künstler aus Ost- und Westberlin. Begleitend dazu suchte der Choreograph und Regisseur Norbert Mauk gemeinsam mit Tänzern aus Japan, Italien und Deutschland nach einer eigenen Sicht auf die Geschichte. Im kleinen Wasserspeicher in Prenzlauer Berg mit seinen Gewölben, Wasserlachen und seiner Kälte fand er einen idealen Aufführungsort für sein Tanztheaterstück „Purgatorio L“.
In fünfzehn Bildern versucht er dem Grauen des Kriegs, den Ängsten, Hoffnungen und Irritationen nachzuspüren. Das gelingt nicht immer. Anders als in der bildenden Kunst läuft man im Tanztheater (ebenso wie im Schauspiel) Gefahr, durch den Versuch von 1:1-Darstellungen dem Leid nicht zu Leibe zu rücken, sondern es lächerlich zu machen. So geschieht es auch bei „Purgatorio L“: Wenn Micha Brendel mit verbissenem Ernst ein Huhn seziert, um die Grauen der NS-Medizin zu verbildlichen, dann ist das eher unfreiwilliges Kabarett. Und wenn Christof Gräter sich im eiskalten Wasserspeicher (die Zuschauer sind in Wolldecken gehüllt!) mit nacktem Oberkörper im Schlamm suhlt, dann hat das wohl mehr mit der Befindlichkeit des Künstlers als mit dem Thema zu tun.
Trotz dieser schwer verkraftbaren Fehler ist „Purgatorio L“ gelungen, was vor allem den beiden japanischen Tänzern Yuko Kaseki und Takuya Ishida zu verdanken ist. Die Bewegungen der beiden Butoh-Tänzer sind völlig frei von plumper Selbstdarstellung. Ihr Tanz ist ein abstrakter, geisterhafter, Imaginationen freisetzender. Wenn Takuya Ishida durch Mauerritzen kriecht und seinen Körper zusammenkrümmt, während nur noch das Weiße in seinen Augen sichtbar ist, beginnt man unwillkürlich, an Hiroshima zu denken. Während das Publikum im Pulk von Spielort zu Spielort durch die Gewölbe wandert, überlagern sich die Bilder. So bekommt der Wasserspeicher etwas Labyrinthisches. Labyrinthisch wie die Erinnerung, die zum eigentlichen Thema wird – Huhn- und Schlamm-Orgien sind verziehen. Michaela Schlagenwerth
„Purgatorio L“. Täglich bis 4. Juni, 21 Uhr, Kleiner Wasserspeicher, Diedenhofer Straße, Prenzlauer Berg
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