■ Vorschlag: Kulturell gealtertes Naturwesen - "Lulu" an der Lindenoper
Auf der Bühne hinter dem Vorhang ist noch ein Vorhang, dahinter eine Leinwand. Ein gigantisches Auge zwinkert, ein sanfter Mund erbebt. Lulu, das Traumbild, ist zur Betrachtung freigegeben. Vor der Leinwand spielt das Leben, grellbunt, eine Farce. Wie eine leere Kasperlepuppe hängt der Medizinalrat über den Bühnenrand – tot. Lulu, das Kind, die Frau, das „wilde schöne Tier“, agiert. Ihr erstes Opfer ist bereits gefallen, es folgen andere, zuletzt sie selbst.
„Lulu“, die Oper von Alban Berg, deren Handlung aus Wedekinds Dramen „Erdgeist“ und „Die Büchse der Pandora“ vom Komponisten selbst zu einem Gesamtmusikdrama gerafft wurde, mutet heute, sechzig Jahre nach ihrer Uraufführung, ein wenig seltsam an. Nein, an der Inszenierung liegt das nicht. Mit prachtvollen Bildern entlarvt Peter Mussbach die Welt als Zirkus, schildert die Doppelbödigkeit der Gesellschaft an der Schwelle dieses Jahrhunderts, ihren Alltag und ihre Projektionen, in surrealen Filmsequenzen parallel zum Geschehen. Dazu eine Musik, die in satten, warmen Farben dahinfließt, stockt, versiegt, sich ins Bühnengeschehen drängt und die Metamorphosen der Lulu (Laura Aikin) begleitet.
Am stärksten wirkt die Musik zwischen den Bildern, außerhalb der Handlung. Hier sitzt der Stachel: im Sujet. Kein Zweifel: Berg hat „die Sache der Dirne zu seiner eigenen“ gemacht (Adorno) und die Doppelmoral der männlichen Gesellschaft seiner Zeit vorgeführt. Wie Fliegen gehen die Männer ihrer eigenen Phantasie auf den Leim, sind beherrscht von der Projektion ihrer Träume, und einer nach dem andren stirbt daran. Das ist tragisch, aber auch ein wenig kurios. Wer stirbt schon an gebrochenem Herzen? Wer glaubt denn an die Frau als einzig „wahres“ Wesen der Natur? „Lulu“ ist kulturell gealtert, ihre Moral und Botschaft erscheinen heute fast banal. Und doch ist die Oper mit all ihren Brüchen und Widersprüchen auch faszinierend und ergreifend, wirft ihre Zeitgebundenheit Licht auf unsre Zeit. Die Welt hat sich geändert – aber ist sie nicht immer noch Projektion und Zirkus – Farce? Christine Homeyer
Termine: 26.2., 1.3., Deutsche Staatsoper, Unter den Linden, Mitte
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