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■ VorschlagBrachiale Expressivität – Hector Berlioz' „La Damnation de Faust“ in der Philharmonie

Der Hang zum Pathologischen, der Hector Berlioz nachgesagt wurde, soll an dieser Stelle keine Rolle spielen. Aber Berlioz hat doch trefflich vorgemacht, wie man einem Abszeß zu schönster Blüte verhilft. Das sahen zumindest seine Zeitgenossen so: „Ein Absceß, eine Abgeburt, welche aus gräulichem Inceste entsteht“, entsetzte sich Goethe-Freund Zelter angesichts Berlioz' Kompositionsstil in dessen „Huit Scènes de Faust“. Und er war nicht der einzige: Berlioz' oft brachial wirkende Expressivität, die auch das „Böse“ und Häßliche nicht galant umschifft, löste in Zeiten geläufigen Gurgelns und Gefälligkeitsmusik à la Rossini oft genug bestenfalls ein paar hochgezogene Augenbrauen aus.

Doch die Zeiten haben sich natürlich geändert, und damit auch die Rezeption. Wenn die leierige „Amen“-Fuge der Säufer aus „La Damnation de Faust“ (im Gattungsniemandsland als légende dramatique aus den „Huit Scènes“ hervorgegangen) heute eher kurios als drastisch wirkt, rangieren andere, wie etwa die „Höllenfahrt“, auf der Gruselskala nach wie vor ziemlich weit oben. Die Mittel sind keine szenischen, sondern rein musikalische. Allerdings funktioniert die Umsetzung von außermusikalischen Bildern bei ihm außerordentlich eindrucksvoll.

Gehetzte Gäule, die in eine ihr „Sancta Margaritha“ betende Menge rasen, angreifende Riesenvögel, regnendes Blut und letztlich der Sturz in den donnernden Abgrund durch die Instrumentation und rhythmische Diffizilität geraten so plastisch, daß es nicht nur zartbesaiteten Naturen auch ohne anstrengende intellektuelle Deutungsversuche leichtfallen dürfte, den optischen Teil fast gegen den eigenen Willen zu ergänzen.

Vorausgesetzt, der Dirigent liefert das nötige „Material“. Und an dieser Stelle liegt auch der Hund begraben bei Kent Naganos Aufnahme von „La Damnation de Faust“ mit dem Lyoner Opernchor und -orchester von vor drei Jahren. Diese „Faust“-Version, die teilweise recht gemächlich daherkommt, hinkt deshalb, weil die ausgeklügelte Instrumentation und die räumlichen Wirkungen nur begrenzt durch die Mittel der Interpretation ausgereizt werden. Dadurch kommt die Vorstellungskraft der Zuhörer, die ja Teil des Konzepts ist, denn auch nur schleppend in Gang.

An den Nerven zerrt das nicht, es geht gemütlich zu. Doch die Prognose sei trotzdem gewagt, daß Nagano – live und mit dem DSO – den Berliozschen Hang zur Grenzüberschreitung etwas stärker zu seiner Sache macht. Ein Hauch mehr wäre schon genug, und Fausts Elemente wären für ein, zwei Stündchen reanimiert. Annette Lamberty

Hector Berlioz „La Damnation de Faust“, Deutsches Symphonie- Orchester und Rundfunkchor Berlin, Dirigent: Kent Nagano, Solisten: R. Donose, S. Neill, R. Schneider, J. van Dam. Philharmonie, 18.1., 11 Uhr, 19.1., 20 Uhr

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