■ Vorschlag: Fröhliches Massensterben: „Shockheaded Peter“ im Hebbel
Der „beste Schauspieler der Welt“ rollt das R wie seine Augen im gespensterhaft weiß geschminkten Gesicht. Als sarkastischer Conférencier mit Stock und Zylinder führt er durch das bunte Gruselkabinett der Schwarzen Pädagogik, das Julian Crouch und Phelim McDermott in einen extrakleinen Guckkasten gezwungen haben. So fallen und wachsen die Bilder und Puppen, die das Londoner Duo von Cultural Industry für seine Version des „Struwwelpeter“ erfunden und gebaut hat, im doppelten Wortsinn aus dem Rahmen.
Nehmen wir die Hauptfigur, Shockheaded Peter himself, der als strohbehaarter Säugling von seinen Eltern unter die nächstbeste Bodendiele gestopft wird, von wo aus sich die Nägel seiner Grätenfinger durch die Ritzen in die Szene bohren. Und auch die drei Tiger Lillies, deren genialisch enervierende Musik den deutschen Bangemache-Klassiker erst zur „Junk Opera“ macht, halten sich nicht an architektonische Vorgaben: Martyn Jacques, mit Akkordeon und sägendem Falsett unermüdlicher Sekundant des grell-bunten Horrors, wächst mal hier, mal dort aus der Kulisse: „Dead, dead, dead“, lautet seine Litanei, denn voller Inbrunst wird hier jede kindliche Verfehlung mit dem sofortigen Tode geahndet. Paulinchen wird vom Feuer verzehrt, der Daumenlutscher Konrad muß elend verbluten — Kinderleiche reiht sich an Kinderleiche. Was dieses Gemetzel an optischem Zündstoff birgt, weiden die Briten lustvoll aus und legen zugleich ihr Handwerk bloß: Die Flammen sind aus Holz, die Riesenschere ist aus Pappe, und das Blut fließt in roten Bahnen.
In Braunschweig, wo „Shockheaded Peter“ bereits im Juli im Rahmen der Theaterformen gezeigt wurde, sorgte das fröhliche Massensterben für teuflisch gute Festivallaune. Im Programm der Berliner Festwochen setzt die selbstreferentielle Künstlichkeit dieser Produktion einen deutlichen Kontrapunkt zum problemorientierten Wohnküchenrealismus des neuen britischen Autorentheaters à la Ravenhill. Doch auch Crouch und McDermott sind mehr als bloß virtuose Ausmaler des Hoffmannschen Bilderbogens. Anders als im Original verwandeln sich bei ihnen auch die viktorianischen Mustereltern in Monster, neben denen der verstoßene Sohn vergleichsweise niedlich wirkt. Weshalb sie ihn schlußendlich wieder ausbuddeln. Sabine Leucht
Heute bis 27.9., 20 Uhr, Hebbel Theater, Stresemannstraße 29. Am 25./26.9. sind die Tiger Lillies danach in der Bar jeder Vernunft.
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