■ Vorlesungskritik: Studenten rechnen ihre Rente aus
Da hat die Humboldt-Universität wieder einen dicken Fisch an Land gezogen. Allenthalben wurde schon über die Rückwanderung neuberufener Professoren von Ost nach West lamentiert, auch bei Humboldts verschlechterte sich die Stimmung zusehends. Dennoch war die Fama der Linden-Universität anscheinend noch immer zugkräftig genug, um den Politologen Claus Offe aus Bremen abzuwerben. Der Experte für Sozialpolitik kultivierte als einer der ersten in Deutschland die aus Amerika stammende Untersuchung einzelner Politikfelder. Zugleich ist er einer der wenigen deutschen Kollegen, die auch in transatlantischen Politologenzirkeln einen Namen haben.
Bescheiden begann er seine erste Berliner Vorlesung, als müsse er sich seinen Hörern noch vorstellen. „Mein Name ist Claus Offe. Ich bin vor wenigen Tagen nach Berlin gekommen.“ Bescheidenheit trägt er auch sonst zur Schau. „Kürschners Deutscher Gelehrten-Kalender“ verzeichnet für den Wissenschaftler von der Universität Bremen nur eine knappe Eintragung.
Die Vorlesung soll Studienanfänger in „Soziale Sicherheit in der Bundesrepublik: Strukturen, Probleme, Strategien“ einführen. Entsprechend unprätentiös gibt sich Offe. „Ich bitte Sie, auf Klärung zu bestehen, wenn Sie etwas nicht verstehen“, redet er mit ruhiger, fast zu leiser Stimme auf die Studenten ein, „wie bei Einführungsveranstaltungen üblich, werden viele lose Enden übrigbleiben“.
Deutschland, beklagt Offe, sei in der sozialwissenschaftlichen Behandlung von Sozialpolitik relativ rückständig, „das Juristenmonopol ist ungebrochen“. So muß er am Beginn der Vorlesung die eigene Forschungsrichtung erst einmal legitimieren. Die Systeme der „institutionalisierten Zuteilung von Subsistenzmitteln“ (wie die Sozialwissenschaftler Sozialpolitik definieren) historisch zu erklären, ihre Akteure zu typologisieren und diese Systeme schließlich kritisch zu bewerten – mit diesen drei Fragestellungen umschreibt Offe die spezifisch sozialwissenschaftliche Herangehensweise.
Freilich gehört er nicht zu jener Kategorie von Politologen, die ihre eigene Unsicherheit über den Sinn ihres Tuns hinter immer neuen Worthülsen verbergen, die sie dann mit bemerkenswerter Humorlosigkeit verteidigen. „Es gibt ja einen Streit zwischen den sozialwissenschaftlichen Schulen, ob sich die Welt besser in Dreier- oder Viererschemata einteilen läßt“, feuert er statt dessen Breitseiten gegen die Vertreter einer neuen Scholastik ab.
Und so lernt man in der Vorlesung nicht nur für die Wissenschaft, sondern auch fürs Leben. Eine Doppelstunde der Vorlesung ist der Alterssicherung gewidmet. Wie dereinst die eigene Rente berechnet wird, interessiert auch die Studenten. Allerdings zeigen die Fragen, daß sie von der „Rentenformel“ bestenfalls eine ungefähre Ahnung haben. Auf die von ihm selbst propagierte Alternative eines Bürgergelds geht Offe nur am Rande ein. Bei dem geltenden Prinzip der Sicherung des sozialen Status müsse man sich „schon anstrengen, um den moralischen Sinn zu entdecken.“ Ralph Bollmann
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