■ Vorlesungskritik: Sterben mit Sinn
Daß der ICE „Wilhelm Conrad Röntgen“ verunglückt ist, kann außerhalb von Eschede niemanden erschüttern. Außer Opfern, Helfern und Journalisten war schließlich kein Mensch vor Ort. Was den Rest der Republik beschäftigt, ist nicht der Unfall selbst. Es sind die Worte, die darüber gesprochen oder geschrieben werden.
Nicht Taten machen Geschichte, sondern Worte: Das wußte schon Epiktet. Der Historiker Reinhart Koselleck schmiedete daraus die „Begriffsgeschichte“, als deren Bibel er das Lexikon „Historische Grundbegriffe“ herausgab.
Das Stichwort „Emeritierung“ findet sich dort nicht. Daß Professoren nicht schnöde in Rente gehen, ist gleichwohl eine begriffliche Distinktion mit Folgen. Der durchschnittliche Rentner reist unentwegt durch die Lande und sucht auf quälenden Dia-Abenden den Neid der Daheimgebliebenen zu erregen. Den emeritierten Professor hingegen zwingt seine déformation professionelle zu ruhelosem Einsatz für die Wissenschaft.
Doch dem 75jährigen Historiker aus Bielefeld ist es gelungen, beides aufs Trefflichste zu verbinden. Seit der letzte Band der „Grundbegriffe“ 1992 erschien, widmet er sich mit ganzer Energie der Erforschung des Totenkults. Alle Kriegerdenkmäler, die ihm unterkommen, bannt er seither auf Dias, mit denen er auf Kongressen seine Fachkollegen traktiert.
So zuletzt bei einer Tagung auf Schloß Genshagen, einem malerisch heruntergekommenen Rittergut südlich von Berlin. Zwar seien, gestand Koselleck, in seiner „Fotoreportage“ die meisten Denkmäler „nicht postkartenfähig“. Doch erfüllten sie ihren Zweck – zu zeigen, wie die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht im Gefolge der Französischen Revolution zur Nationalisierung der militärischen Toten führte. Niemand mußte mehr umsonst sterben.
Dem Ancien régime war dieses Denken völlig fremd gewesen. Der gewaltsame Tod eines Fürsten galt als „Panne“. Erst in der anbrechenden Moderne konnte sich die herrschende Schicht „als sterbende Schicht erkennen“. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurden die einfachen Soldaten „denkmalsfähig“, und auf manchem Denkmal „stirbt das Pferd freundlicherweise mit“.
Solche Stiftung von Sinn mußte im 20. Jahrhunderts der Suche nach Sinn weichen. Um so mehr erzürnen Koselleck die Versuche seines einstigen Kommilitonen Helmut Kohl, das ästhetische Niveau der Gedenkkultur auf den Vorkriegsstand zurückzuschrauben. Als „mies und medioker, provinziell und sentimental“ kritisierte er Kohls Neue Wache. Auch das Holocaust-Mahnmal behagt Koselleck nicht, weil es den Weg zu einer quantifizierenden „Denkmalshierarchie“ weise.
Für den Begriffshistoriker stehen aber letztlich nicht Denkmäler im Zentrum der Erinnerungskultur. „Sprache“, so meint er, „ist oft wirksamer als alle materialen Erstarrungen.“ Ralph Bollmann
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen