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■ VorlaufEin Dorf ging nicht hin

„Wir wollten lieber hier sterben als in Sarajevo“, So., 22.40 Uhr, BRD

Ein paar Wochen lang ereignete sich in dem nordserbischen Dorf Tresnjevac so etwas wie Weltgeschichte. 250 Männer des überwiegend von Ungarn bevölkerten Dorfes widersetzten sich der Einberufung zum serbischen Militär und leisteten einen Akt zivilen Ungehorsams: „Stell dir vor...“ eben. Milošević schickte Panzer gegen die sich in einer Pizzeria versammelnde Bevölkerung, in der die „Spiritual Republic Zitzer“ ausgerufen wurde. Die Pazifisten ließen die Kameras der Weltpresse auf die Panzer schießen. Heute versucht Belgrad den Vorfall zu vertuschen. Es habe keine Panzer gegen das Dorf gegeben. Die „Geistige Republik“ sei der paranoide Einfall des nunmehr arbeitslosen Lehrers Lajos Balla.

Der Film von Marc Haenecke und Michael Leuthner erzählt die Begebenheiten nicht als pazifistische Heldengeschichte. Das Weiterleben nach einer emphatischen Tat, die beinahe zufällig über die Bewohner gekommen ist, bereitet Schwierigkeiten. Die ökonomische Situation ist so trostlos wie die deprimierende Ebene der Vojvodina. Die Angst vor politischen Repressalien durch Miloševićs Staat liegt wie ein unhörbarer melancholischer Pfeifton in der Luft.

Überall zu hören und zu sehen sind die Fernsehteams, die drei Jahre nach dem 62tägigen Widerstand in der Pizzeria die Geschichte immer wieder erzählt bekommen wollen. Es ist unmöglich, einfach weiterzuleben wie vorher. Lajos Balla ist nicht mehr der Held, der die Weltöffentlichkeit mobilisiert hat, sondern auch der Sonderling, der die Dorfbevölkerung daran erinnert, daß alles einmal anders war in Tresjnevac. Man kann nicht mehr zurück hinter den Zeitpunkt, als es Geschichte in der Vojvodina noch nicht gab. Das erzählen die Dokumentarfilmer mit elegischen Mitteln. Immer wieder schweift die Kamera über die Landschaft ohne touristischen Reiz und natürlichen Blickfang. Die Dorfbewohner stellen sich nicht in Pose. Vielleicht sind sie die vielen Kameras schon gewohnt. Vielleicht läßt sich ihre Tat auch nicht in einer jederzeit vorzeigbaren Haltung fixieren.Harry Nutt

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