piwik no script img

Vorabdruck aus "Bürger erhebt euch"Die Rebellion des Citoyens

Die bürgerliche Klasse fällt auseinander. Citoyen und Bourgeois verstehen einander nicht mehr. Übernimmt der Populismus das Erbe der repräsentativen Demokratie?

Radikal antibourgeois: Das Projekt ist wichtiger als das Leben und fordert Opfer. Bild: dpa

Für Menschen, die denken und fühlen, können „der Bürger“ und „die Bürgerin“ keine rundum sympathischen Erscheinungen sein. Deshalb sieht man sich gelegentlich gedrängt, das Bürgerliche zu überwinden, in der Welt und in sich selbst. Vermutlich gibt es nichts, was so tief bürgerlich ist wie die Sehnsucht nach dem Nichtbürgerlichen.

Die Hilfskonstruktion ist bekannt: Wir sprechen einerseits vom „Citoyen“, jenem Bürger des Staates, der diesem Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität abverlangt, wenn es sein muss, auch mit den Mitteln des mehr oder weniger zivilen Ungehorsams. Das ist ein hellwacher, kritischer, aufgeklärter, zu Zeiten rebellischer, jedenfalls unruhiger Geist, der den Diskurs selber bestimmen will.

Wir stellen uns den Citoyen und die Citoyenne als dynamische, empfindsame, eher schlankere Menschen vor, die irgendwie immer mit einem „Projekt“ oder einer „Manifestation“ beschäftigt sind. Ausruhen können sie später, wenn die Welt eine bessere geworden ist.

Bigotte Rituale

Und wir sprechen andererseits vom „Bourgeois“, jenem Nutznießer des Kapitalismus, der sich gern dem Gerechtigkeits- und Solidaritätsfimmel des Staates entzieht, der möglichst alles beim Alten belässt, es sei denn, es bringt ihm Profit und Vorteil; ein Mensch, der sich nichts daraus macht, zu genießen im Angesicht des Elends, der gleichwohl seine bigotten Rituale der Selbstbeweihräucherung hat, sei es in der Kirche oder vor dem Fernsehapparat, jemand, der sich blind stellt und sich gern verblenden lässt und der fette Speisen in einem fetten Körper begräbt. Bourgeois und Bourgeoise pflegen statt Projekten die kleinen Unterschiede.

Insbesondere in ihrer verbreitetsten Form, nämlich als „petit“ bourgeois ist ihre Mischung aus Habgier und Neid, Untertänigkeit und Hang zur ökonomischen Kriminalität einigermaßen unerträglich.

Der Citoyen (die Demokratie) und der Bourgeois (der Kapitalismus) sind nur auf den ersten Blick zwei Figuren in der Comedia dell’Arte in unserer Gesellschaft, wenn auch verwandte: Bourgeois und Bourgeoise zeugen ein Kind, das unbedingt ein Citoyen oder eine Citoyenne werden will; den Citoyens verdirbt die bourgeoise Familie das Projekt. Viel mehr aber sind Bourgeois und Citoyen die beiden Seiten ein und derselben Persona, in sehr, sehr unterschiedlichen Verhältnissen natürlich.

Radikal antibourgeois zu sein, endet in aller Regel mit einigermaßen unmenschlichen Zumutungen, nämlich entweder mit einer destruktiven und vor allem selbstdestruktiven Lebensweise der umfassenden Rücksichtslosigkeit (wir haben dazu Rollenmodelle wie „Aussteiger“, „Boheme“, „Subkultur“, „Nerd“, „Künstler“ et cetera, welche allerdings, da sie bereits „Erklärung“ und Mythos beinhalten, schon ihrerseits fest im bourgeoisen Diskurs verankert sind) oder aber mit einer mehr oder minder terroristischen Geste: Das Projekt (nennen wir es „Revolution“, nennen wir es, im Gegenteil, „Rettung“) ist wichtiger als das Leben selbst und fordert entsprechend Opfer.

Der Bruch zwischen Citoyen und Bourgeois ist ohne Gewalt nicht zu haben. (Aber wir können durchaus zweifeln, ob er mit Gewalt zu haben ist.) Doch ebenso wenig ist eine Versöhnung zwischen Citoyen und Bourgeois ohne die Produktion von Gewalt zu haben. (Wir können sogar argwöhnen, dass die Versöhnungsversuche von Citoyen und Bourgeois Produktionskräfte gesellschaftlicher Gewalt sind.) Citoyen und Bourgeois erzeugen keine dialektische Einheit, sondern bilden im Gegenteil einen endlosen Zerfallsprozess ab.

Um das Dilemma zu verschärfen, stellen sich die Verhältnisse von Bruch und Vereinigung zwischen Citoyenne und Bourgeoise sowohl in Analogie als auch im Widerspruch zur Konstruktion des Citoyens/Bourgeois ab: Um vollwertige Bourgeoise werden zu können, muss die Frau dem Bourgeois (so kontrolliert und effizient das eben möglich ist) als Citoyenne begegnen, so wie sie andererseits – „im Interesse der Familie“, wie man so sagt – dem Citoyen als Bourgeoise begegnete.

Aber damit haben sich die Spaltungen längst noch nicht erschöpft, denn für jeden Bereich, Citoyen/Bourgeois oder Citoyenne/Bourgeoise oder Citoyen/Bourgeoise oder Citoyenne/Bourgeois gibt es noch je ein Innen und Außen, ein Intimes und ein Öffentliches, eine Sprache und ein Gesprochenes, eine Mythologie und eine Realität, eine gesellschaftliche Praxis und eine politische Repräsentierung, eine Zivilisation und eine Kultur und vieles mehr.

Fake-Bourgeois

Zum doppelten/gespaltenen Bürger, den es gewiss in unterschiedlichen kulturellen Ausprägungen, jedoch mit genügend Konstanten gibt, existieren nur drei Alternativen: Der Mensch, der noch nicht Bürger ist (Barbar und Bauer), der Mensch, der nicht mehr Bürger ist (über- und unterlebender Postmensch, möglicherweise) und schließlich die subbürgerliche Lebensform einer wachsenden Anzahl von „Verlierern“ des metabourgeoisen Weltkapitalismus.

Das Proletariat von einst, das sich als Klasse gegenüber einer anderen Klasse sehen konnte, hat sich gespalten in ein Kleinstbürgertum (mit einer Fake-Bourgeois-Kultur), ein Prekariat (das von individuellem Überlebenskampf und der einzigen Sorge, nicht ins allerletzte Segment abzurutschen, geprägt und gelähmt ist) und schließlich etwas, was man nicht nur im angelsächsischen Sprachbereich so deutlich zu bezeichnen eingeübt hat: Trash, menschlichen Abfall, überflüssige Menschen, die man „durchfüttert“, „mitschleppt“ und es, kaum weht der Wind einmal wieder ein wenig rauer, am liebsten auch nicht mehr täte.

Der Klassenkampf wurde durch diese Transformation mitnichten beendet, sondern im Gegenteil auf brutale Weise verschärft. Und dies sowohl in der direkten Konfrontation der gesellschaftlichen Teilmengen als auch im Bewusstsein wie in der „Seele“ des Bourgeois/Citoyens. Wir erleben beständig so etwas wie einen „inneren Bürgerkrieg“. Denn nie war für ihn dieses Empfinden so ausgeprägt: Wovon der Bourgeois am meisten profitiert, das kann für den Citoyen ganz einfach nicht erträglich sein.

So kann schließlich der kapitalistische Diskurswechsel, den wir unter den zweifellos einigermaßen irreführenden Schlagwörtern „Neoliberalismus“, „Globalisierung“ und „Finanzkapitalismus“ zusammenzufassen uns angewöhnt haben, nicht umhin, neuerlich einen enormen Druck auf eine „endgültige“ Spaltung von Bourgeois und Citoyen auszuüben. (Wäre es so einfach, wie wir uns das wenigstens für die Bilder immer wieder erhoffen, so sähe der eine „Bürger“ aus wie Josef Ackermann und der andere wie der akademisch gebildete Teilnehmer der Protestkundgebung gegen Stuttgart 21.)

Unauflösliche Hassliebe

Freilich geht es nicht nur um die Spaltung des Bürgers in einen Nutznießer und ein „Gewissen“ oder wenigstens um die zwischen dem kurzfristigen, egoistischen Profit innerhalb des Systems und der langfristigen, assoziativen Sorge um die Erhaltung des Systems selber (und sei es der ganze Planet, der an seiner Ausplünderung und Vergiftung zugrunde geht), es geht vielmehr um verschiedene Sprachen, Zeichen, Erzählungen, Bilder et cetera. Das größte Problem zwischen Citoyen und Bourgeois ist nicht ihre unauflösliche Hassliebe zueinander (zwei zänkische Seelen in einer Brust), sondern ihre semiotische Drift: Sie verstehen einander einfach nicht mehr.

Wer hat das angerichtet? Und was folgert daraus? Besteht die Lösung, wenn es eine gibt, darin, dass sich Citoyen und Bourgeois (nebst den erwähnten Ableitungen im Gender-Diskurs) wieder „versöhnen“, Ausgleich und Sprache finden? Oder vielmehr darin, den Bruch, den de facto der „neue“ Kapitalismus und sein Bourgeois-Protagonist vollzogen (bis hin in seinen Verzicht auf das, was dem alten Bourgeois einmal als Kultur wertvoll und hilfreich schien), endlich auch bewusst und politisch zu realisieren: Spätestens, wenn der Bourgeois zur Wahrung seiner Profitinteressen den Polizeiknüppel gegen seinen Bruder und seine Schwester, Citoyen und Citoyenne, aktiviert, müsste klar sein, dass dieser Bruch mit den gewohnten, den kulturellen, medialen, semiotischen, politischen und sogar sexuellen Mitteln nicht mehr zu kitten ist.

Eben die Mittel, die vordem für einen Ausgleich und für die Moderation zwischen Citoyen und Bourgeois sorgten – urbane Strukturen, kulturelle Ambivalenzen, Stätten der Subversion wie der Einsicht, die Kulte der Versöhnung nicht zuletzt in der Kunst, der Wissenschaft, von der Religion ganz zu schweigen, aber auch in der semiotischen Mikrophysik, den Moden, den Repräsentationen von Körper und Subjekt, im öffentliche Raum et cetera –kurzum die semiotischen, mythischen und realen Treffpunkte von Bourgeois und Citoyen wurden eingespart, abgeschafft, transformiert.

Ein Bourgeois, wir sehen es nicht nur an Berlusconis langer Herrschaft, regiert leichter mit Teilen des Prekariats (und, sehen wir uns die Wahlanalysen an, leichter mit der Zustimmung durch Verängstigung als durch das Projekt bis in die Beziehungen von Bourgeois und Bourgeoise hinein) als mit den Citoyens. Der „Populismus“, den wir allenthalben am Werk sehen, und der offensichtlich, so oder so, drauf und dran ist, das Erbe der repräsentativen Demokratie zu übernehmen, ist eben nicht nur eine den medialen und sozialen Gegebenheiten angepasste neue Herrschaftstechnik, sondern auch eine ganz direkte Folge dieser absurden Inversion des Klassenkampfes.

So ist, paradox genug, für „das System“ beinahe noch gefährlicher als seine radikale und schamlose Ungerechtigkeit, mit der es ein irgendwann unerträgliches Gefälle zwischen „Gewinnern“ und „Verlierern“ erzeugt, das Auseinanderfallen der so oder so herrschenden, der bürgerlichen Klasse.

Der große Irrtum des Bourgeois, zu glauben, er könne ohne den Citoyen auskommen (denn man hat neue Sinn-, Steuerungs- und Zeichensysteme entwickelt, die offensichtlich weder der Intelligenz noch der Integrität bedürfen), beginnt die ersten Symptome einer tödlichen Krankheit zu zeigen.

Markus Metz, Georg Seeßlen: "Bürger erhebt euch!". Laika Verlag, Hamburg 2012, 398 Seiten, 24,90 Euro, erscheint am 9. März

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

5 Kommentare

 / 
Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • M
    Manuel

    Vielen Dank für die Antwort!

    Ich habe mich nämlich bereits einige male gefragt, weshalb sie auf taz.de häufig Kommentare schreiben, die meistens nicht ins „typische“ taz-Leserprofil passen, manchmal, wenn auch selten eben, aber doch. Fand ich einfach mal sehr interessant zu erfahren, was die Beweggründe sind, guter Ansatz wie ich finde, auch wenn ich mit ihnen sicherlich meistens nicht übereinstimme, aber das muss und kann ja nun mal auch nicht sein.

    Danke fürs Antworten ;-)

  • H
    HamburgerX

    @Manuel

     

    Ich will darauf auch ernsthaft antworten. Zunächst einmal habe ich hier schon Artikel einfach kurz gelobt, weil sie insgesamt gut waren. Richtig ist, dass ich lieber widerspreche als jeden Absatz aufzuzählen, den ich genau so sehe.

     

    Es würde mich langweilen, mich auf Seiten oder Foren aufzuhalten, die meine Meinung fast immer wiederspiegeln, wenn es solche Seiten geben sollte. Was soll ich da noch beitragen? Da würde ich mich eher wie ein Lemming fühlen, der vorgebetet bekommt und irgendwann nur noch nachkaut. Mein Ideal ist eine Zeitung, die verschiedene Meinungen und Weltsichten widerspiegelt.

     

    Ich will unabhängig bleiben und mich auch gerne mal reiben, testen, ob mein eigener Standpunkt haltbar ist. Die auch fundamentale Kritik an Misständen, Missverständnisse oder meiner Ansicht nach fragwürdigen, unlogischen Inhalten usw. halte ich daher für eine bedeutende Übung. Genau so wie die taz löblicherweise versucht, sich von Mainstream-Medien abzusetzen und vergessene Nischen zu beleuchten, so bin ich vielleicht die Nische in der Nische.

     

    Fest steht: Es gibt in der taz hochinteressante Artikel, Ansichten und Argumentationen, auch von Gastautoren, und daher besuche ich die Seite neben anderen durchaus gerne. Dass ich manche Ansichten scharf ablehne, ändert nichts daran, dass mich dennoch Hintergründe und Argumente interessieren. Beispiel: Gauck-Diskussion oder Frauenquoten.

  • M
    Manuel

    @ Hamburger X:

    Eine Frage, die sie bitte nicht als Angriff verstehen sollen. Ist wirklich ganz ohne Sarkasmus gemeint: Weshalb besuchen sie die Seite taz.de und kommentieren Artikel so häufig, wenn sie eigentlich immer lediglich gegen den Inhalt der Artikel schießen wollen? Ist wirklich eine ernst gemeinte Frage, rein aus Interesse. Ich meine, ich verirre mich auch manchmal auf Seiten, die meiner politischen Couleur nicht entsprechen, (Welt, Bild und auch so etwas wie PI) nur um mich entweder zu beümmeln (sauerländer Slangwort) oder mich aufzuregen, mir passiert sowas auch öfters. Nur ich kommentiere dort in der Regel keine Artikel…

    Naja vielleicht können sie mir ihre Motivation ja erklären ;-)

     

    @ Topic: Interessante Leseprobe, scheint sehr viel theoretische Erörterung zu sein, nicht ohne Humor. Leider habe ich im Moment noch genug anderes Zeugs zu lesen, ehe ich dazu käme, mir dieses Buch zu kaufen…

  • H
    HamburgerX

    Die kommunistische Hetze gegen die "Bourgeoisie" hat Millionen Todesopfer gefordert, die undefinierte Verwendung von "Kapitalismus", jetzt ersetzt durch "Neoliberalismus" (was das Gleiche meint) als Kampfbegriff sowie das ständige Denken in Klassenbegriffen atmen extremistische Luft. Es geht hier nicht um mehr Demokratie, sondern um mehr Klassenkampf. Dafür 24,90 Euro ausgeben? Das ist ja sogar teurer als bei Sarrazin.

     

    Nein, ich werde mich nicht erheben, um dieses Buch zu kaufen.

  • AD
    A. Dannenberg

    Eine schöne ideologische Vorlage für die Ernennung der russichen Opposition zu "einzig wahren Demokraten", die gegen bösen Kapitalisten und ihren "ländlichen Leibeigenen" kämpfen.