■ Vor fünf Jahren putschten Algeriens Militärs gegen den Wahlsieg der Islamisten. Seitdem starben Zehntausende Menschen in einem grausamen Bürgerkrieg, aus dem kaum je Bilder oder unabhängige Informationen die Weltöffentlichkeit erreichen: M
Vor fünf Jahren putschten Algeriens Militärs gegen den Wahlsieg der Islamisten. Seitdem starben Zehntausende Menschen in einem grausamen Bürgerkrieg, aus dem kaum je Bilder oder unabhängige Informationen die Weltöffentlichkeit erreichen
Mord unter dem Mantel des Schweigens
Der Kampf geht weiter. Das ist die Botschaft, die die „Bewaffneten islamischen Gruppen“ (GIA) Algeriens auch nach den verheerenden Anschlägen der letzten Tage verbreiten. In ihrer gestern in der Zeitung El Watan abgedruckten Erklärung heißt es: „Der Krieg wird fortgesetzt und wird sich während des Ramadan verschärfen. Wir haben die Mittel und die Leute, um diejenigen zu bestrafen, die nicht auf unserer Seite sind.“
Seit Beginn des Fastenmonats am 10. Januar starben bei Überfällen und Anschlägen nach offiziellen Angaben 150 Menschen; allein am letzten Sonntag 23 Hauptstadtbewohner, die auf einem Boulevard flanierten, am vergangenen Samstag 48 Einwohner eines Dorfes. Dabei hatte Premier Ahmed Ouyahia kurz vor Weihnachten das Ende der fundamentalistischen Gewalt bekanntgegeben: „Die Sache mit dem Terrorismus war eine schmerzhafte Erfahrung. Wir haben ihn bekämpft und – Gott sei Dank – besiegt.“ „Noch so ein Sieg, und das Land ist endgültig verwüstet“, antwortet die Tageszeitung Le Matin Ouyahia bitter. Doch die Militärs, die mit ihrem Putsch nach einem haushohen Wahlsieg der Islamischen Heilsfront (FIS) vor fünf Jahren die islamische Bewegung in den Untergrund drängten und somit zur Radikalisierung eines Teils der Fundamentalisten beitrugen, feiern weiter den Untergang der GIA. Die Bevölkerung schaut ohnmächtig zu. Bomben auf der einen Seite, willkürliche Repression auf der anderen Seite. 50.000 Menschen sind nach Angaben von amnesty international (ai) bisher dem „heiligen Krieg“ und der „Terrorismusbekämpfung“ zum Opfer gefallen. Nach einheimischen Quellen sind es bis zu 120.000. Nach einer Razzia in der Altstadt Algiers in der letzten Woche berichteten die Bewohner, es sei gewesen wie damals im Befreiungskrieg, als die französische Kolonialarmee ständig in den engen, verwinkelten Stadtteil einfiel. In der Abenddämmerung waren erste MP-Salven und Granateinschläge zu hören. Die ganze Nacht durchsuchten dann die Soldaten das Viertel Haus für Haus. Scheinwerfer tauchten die Gassen in gespenstisches Licht. Zwölf mutmaßliche Islamisten wurden erschossen. Wie viele Soldaten bei der Razzia verletzt oder getötet wurden, darüber schweigt sich das Regime aus.
Die Vertreter der Macht müssen unverwundbar erscheinen. Erst wenn sich ein Toter auf offizieller Seite überhaupt nicht mehr leugnen läßt, gibt es Presseerklärungen. So als am Samstag der für die Verhandlungen mit dem Internationalen Währungsfonds verantwortliche Planungsminister Ali Hamdi durch einen Kopfschuß verstarb: Es sei ein Unfall beim Reinigen seiner Pistole gewesen. Zweifel sind angebracht. Auch als im November der Bürgermeister von Algier, Ali Bouceta, Schußverletzungen erlag, sprach das Innenministerium von Unfall, islamistische Kreise hingegen von einem Hinterhalt, in den der Dienstwagen Boucetas geraten sei.
Statt den von der Opposition geforderten Dialog mit den gemäßigten Teilen der islamischen Bewegung um die FIS zu suchen, baut Präsident Liamine Zéroual seine Macht ständig aus und begräbt damit jede Hoffnung auf einen erneuten Demokratisierungsprozeß. Die kürzlich verabschiedete Verfassung macht den General übermächtig, ein dazugehöriges Parteiengesetz verbietet islamische Gruppen endgültig. Dabei zieht Zéroual immer weitere Teile der Bevölkerung in die bewaffneten Auseinandersetzungen hinein. 80.000 Männer wurden für Bürgermilizen rekrutiert und mit Waffen versehen. Den dreifachen Mindestlohn kassieren sie. Ein lukratives Einkommen in einem Land mit 30 Prozent Arbeitslosen. Die „Selbstverteidigungsgruppen“ säen ihrerseits im Namen der „Terrorismusbekämpfung“ Angst und Schrecken. Gefangene machen sie grundsätzlich keine, berichtete einer der Milizionäre stolz gegenüber ai. Erst Ende letzter Woche enthaupteten sie in zwei Armenvierteln Algiers neun Menschen.
Die Vorsitzende der Arbeiterpartei (PT), Louisa Hanoune, ist über die Situation verzweifelt: „Hier herrscht totale Konfusion. Niemand weiß mehr, wer es mit wem hält und wer was macht. Algerien ist auf dem besten Weg zu zerfallen.“ Reiner Wandler, Madrid
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