Vor der Parlamentswahl in Kanada: Zitterpartie für Justin Trudeau

Der Wahlkampf für den einst so beliebten Premierminister läuft alles andere als rund. Trudeaus Verhalten lässt an seinem weltoffenen Image zweifeln.

Trudeau steht vor einer kanadischen Flagge

Justin Trudeau spricht bei einer Wahlkampfveranstaltung in Hamilton Foto: dpa

VANCOUVER taz | Die Wahlkampfhilfe kam per Tweet von Barack Obama. Justin Trudeau sei ein hart arbeitender, effektiver Politiker, meinte der frühere US-Präsident und fügte fast flehend hinzu: „Die Welt braucht dieser Tage seine progressive Führung, und ich hoffe, unsere Nachbarn im Norden unterstützen ihn für eine weitere Amtszeit.“ Das ist nach sechs Wochen Wahlkampf in Kanada keineswegs sicher.

Am Montag wird in Kanada ein neues Parlament gewählt, und glaubt man jüngsten Daten, wird Trudeaus liberale Partei wohl ihre Mehrheit im Unterhaus in Ottawa verlieren. Ob der einst so beliebte Premier danach als Chef einer Minderheitenregierung weitermachen kann, ist unklar.

Tatsächlich zeigt der Last-Minute-Tweet Obamas, wie eng es für Trudeau geworden ist. Umfragen sagen ein Kopf-an-Kopf-Rennen voraus. Vor vier Jahren angetreten als liberaler Hoffnungsträger und politischer Sonnyboy, der Kanada gerechter, femininer und ökologischer machen wollte, leidet Trudeau heute unter der Bürde der großen Erwartungen. Dazu kommen diverse Skandale und Zweifel an seinem Charakter.

Diese Zweifel wurden auch im Wahlkampf sichtbar. Für Wirbel sorgten Fotos, die Trudeau in jungen Jahren bei einer Party mit brauner Schminke im Gesicht zeigen und die er selbst als rassistisch wertete. Seine Glaubwürdigkeit als weltoffener Politiker, der für Toleranz und Vielfalt steht, hat dadurch deutlich gelitten.

Skandale und charakterliche Zweifel

Auch Trudeaus Umgang mit Justizministerin Judy Wilson-Raybould, der ersten indigenen Ministerin in diesem Amt, untergrub seinen hohen moralischen Anspruch. Trudeau hatte sie unter Druck gesetzt, ein Strafverfahren gegen die korrupte Baufirma SNC Lavalin einzustellen, um Jobs in seiner Heimat Quebec zu erhalten. Als sie sich weigerte, wurde sie degradiert. Später trat sie zurück.

Bei der einzigen englischsprachigen Fernsehdebatte des Wahlkampfes im kanadischen Geschichtsmuseum in Gatineau gab Trudeau ein eher blasses Bild ab, während sich Kandidaten der kleineren Oppositionsparteien als fortschrittlichere Alternativen präsentierten. Seitdem haben sich die lange stagnierenden Umfragen merklich verändert.

Laut dem „Poll Tracker“ des Senders CBC, der alle Umfragen zusammenfasst, können Trudeaus Liberale nur mit gut 30 Prozent der Stimmen rechnen, fast 10 Prozentpunkte weniger als 2015. Ebenso viel wird für die Konservativen vorhergesagt. Zulegen im Wahlkampf konnten dagegen die Sozialdemokraten, die bei knapp 20 Prozent stehen, und der separatistische Bloc Québecois, der nur in der französischsprachigen Provinz Québec antritt.

Die beiden letztgenannten Parteien sind wie die unter 10 Prozent liegenden Grünen im politischen Mitte-links-Spektrum Kanadas verortet und zehren von enttäuschten Ex-Trudeau-Wählern. Die rechnen ihm zwar an, dass er Cannabis legalisiert, die Wirtschaft angekurbelt, Minderheiten gefördert und das Land offen für Zuwanderer und Flüchtlinge aus aller Welt gehalten hat.

Trudeau hielt Versprechen nicht

Doch viele fortschrittliche Kanadier nehmen es Trudeau übel, dass er die im Wahlkampf 2015 versprochene Reform des Mehrheitswahlsystems kurzerhand absagte, es kaum messbare Verbesserungen für die kanadischen Ureinwohner gab und er den Kampf gegen den Klimawandel bestenfalls halbherzig anging.

Zwar führte Trudeaus Regierung eine Steuer auf Treibhausgase und einen Zertifikatehandel ein, gleichzeitig stimmte sie aber der Erweiterung der umstrittenen Trans-Mountain-Erdölpipeline zu, die von Kanadas Ölsandfeldern an den Pazifik führt. Ein Treffen mit der schwedischen Klimaaktivistin Greta Thunberg empfanden jetzt viele als anbiedernd.

Bei einem Auftritt im Botanischen Garten in Montréal warnte Trudeau letzte Woche seine Anhänger, wer mit kleineren Parteien flirte, werde nach der Wahl womöglich mit einer konservativen Regierung aufwachen. „Wir brauchen in Kanada eine progressive Regierung und keine progressive Opposition“, rief er.

Tatsächlich könnte der konservative Oppositionsführer Andrew Scheer zum lachenden Dritten werden. Der 40-Jährige gilt als blass und unscheinbar und war im Wahlkampf auch nicht frei von Kontroversen. So besitzt Scheer neben dem kanadischen auch einen US-Pass, was Zweifel an seiner Loyalität aufkommen ließ.

Herausforderer profitiert vom Mehrheitswahlrecht

Wenig mehrheitsfähig in Kanada sind auch seine sozial-konservativen Ansichten bei Themen wie Abtreibung oder Homo-Ehe, obwohl er versprach, die liberale Rechtslage nicht anzutasten. Doch Scheer profitiert vom Mehrheitswahlrecht und den Stimmensplitting im liberalen Lager. Das könnte ihm selbst bei einem mittelmäßigen Ergebnis die meisten Sitze bescheren.

Als Spielverderber für Trudeau könnten sich ausgerechnet die Wähler in seiner Heimatprovinz Québec erweisen, deren Wahlverhalten traditionell stark schwankt. 2015 hatte er dort die meisten Wahlbezirke gewonnen und damit den Grundstein für seinen Sieg gelegt. Dieses Mal machten dort vor allem die Separatisten von sich reden, die dort mit den Liberalen in Umfragen mittlerweile gleichauf liegen.

Das Wahlthema in Québec ist ein Gesetz der Separatisten, das es Beamten und Lehrern der Provinz verbietet, bei der Arbeit religiöse Symbole wie den Gesichtsschleier zu tragen. Das Gesetz ist in der säkularen Region sehr populär. Trudeau hatte als einziger Parteiführer in Aussicht gestellt, sich einer Klage von Betroffenen anzuschließen. Das dürfte ihn entscheidende Punkte gekostet haben.

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