Vor der Parlamentswahl in Armenien:Die Wahl nach dem Krieg
Anja Martirosjan lebt von 60 Euro im Monat und wohnt in einem Container. Von der Politik erwartet sie nicht mehr viel – auch nicht von der Wahl.
17.6.2021, 11:51 Uhr
Drei klein gewachsene Frauen in großen Gummistiefeln kommen nacheinander aus einem Stall heraus. Sie gehen etwas gebückt, so schwer sind die Eimer, die mit frischem Kuhmist gefüllt sind. Eine nach der anderen kippt ihre Eimer in einer Ecke aus, damit der Kuhdung in der Sonne trocknen kann. Dann laufen sie wieder in den Stall hinein – so geht das mehrere Stunden lang.
In dem armenischen Dorf Jajur ist diese Arbeit überlebenswichtig, wenn man nicht im Winter erfrieren will. Denn die kalte Jahreszeit ist hier, im Norden der Südkaukasusrepublik, besonders hart. Fast in jedem Hof ist Kuhmist meterhoch zu Pyramiden aufgeschichtet. Etwas weniger als 1.000 Menschen leben in Jajur, wo es nicht einmal eine Gasleitung gibt. Auch Hoffnung auf eine bessere Zukunft gibt es nicht, wenn die Armenier*innen am kommenden Sonntag dazu aufgerufen sind, ein neues Parlament zu wählen.
Anja Martirosjan steht mit ihrer Tochter und ihren zwei Enkelinnen an der einzigen Straße im Dorf, alle schauen ständig nach links. Der Bus verspätet sich – wieder einmal. Dann kommt er doch noch. Es ist der letzte, der heute ins knapp 17 Kilometer entfernte Gjumri, die zweitgrößte Stadt Armeniens, fährt. „Erdbeeren aus Omas Garten schmecken am besten“, sagen die beiden Mädchen und lächeln, während ihre Mutter dem Busfahrer ein Handzeichen gibt. Alle steigen ein. Nur die Großmutter bleibt zurück.
Martirosjan ist 70 Jahre alt. Sie trägt einen blauen Morgenrock, der eher an einen Bademantel erinnert. Das ist die typische Kleidung vieler älterer Frauen hier im Dorf. Sie vergräbt ihre Hände in den Manteltaschen und geht langsam nach Hause zurück. Sie selbst hat kein Vieh. Um ihre kleine Behausung zu heizen, kauft sie daher getrockneten Kuhdung bei den Nachbarn. Dafür muss sie einen großen Teil ihrer monatlichen Rente ausgeben, die umgerechnet rund 60 Euro beträgt.
Leben im Container- seit 33 Jahren
Martirosjan wohnt in einem Container. Am 7. Dezember 1988 erschütterte als ein heftiges Erdbeben der Stärke 6,9 den Norden Armeniens. Mindestens 25.000 Menschen starben. Martirosjan hat das Erdbeben überlebt und wohnt seitdem in diesem Container. 33 Jahre habe sie nur Versprechen von den Politikern gehört, doch aus ihrem Container sei sie bis heute nicht heraus gekommen. Sie habe ihre Hoffnungen auf eine neue Unterkunft schon lange begraben, sagt sie.
An eine Seite des Containers schmiegt sich eine Mauer aus Stein, die sie selbst errichtet hat. In den Container gelangt kaum Tageslicht. An Wänden und Decken hat der Regen großen Wasserflecken hinterlassen. Es gibt kaum Platz, um sich zu bewegen. Dafür sind aber vier Betten, in jeder Ecke eins, aufgestellt – für den Fall, dass ihre Enkelinnen doch einmal den letzten Bus verpassen. Oder dass der nicht kommt.
„Das war mein Haus“, sagt sie und deutet auf Steinreste einer Ruine vor dem Container. Ihren Mann hat sie schon vor 40 Jahren verloren. „Die Gartenarbeit hält mich am Leben“, sagt sie. Auf ihrer Parzelle zieht sie Kartoffeln, Bohnen und verschiedene Kräuter, daneben steht ein prächtiger Walnussbaum. Martirosjan hat ein Plumpsklo und eine weiße Katze, die sich ständig vor ihre Füße legt. Sie hat auch einen Sohn, den sie sehr vermisst. Er ist mit seiner Familie nach Russland gegangen – erst, um als Saisonarbeiter auf einer Baustelle zu arbeiten, dann für immer.
„Zumindest ist er am Leben“, sagt sie. Zwei junge Männer aus ihrer Nachbarschaft, erzählt sie, befänden sich seit dem jüngsten Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan in Baku in Kriegsgefangenschaft. Genaues wisse niemand, aber das ganze Dorf trauere.
Geht sie am Sonntag zur Wahl? Martirosjan überlegt kurz, dann sagt sie: „Ich werde demjenigen meine Stimme geben, der unsere Söhne aus Aserbaidschan zurückbringt.“ Dann richtet sie den Blick gen Himmel. Es wirkt, als wolle sie von dort oben Absolution erbitten.
„Ich werde bei den Wahlen demjenigen meine Stimme geben, der unsere Söhne aus Aserbaidschan zurückbringt“
Das Versprechen, das Schicksal vermisster armenischer Soldaten aufzuklären und diese nach Hause zu holen, haben sich in diesem Wahlkampf Politiker fast aller Parteien auf die Fahnen geschrieben. Denn solche Zusagen könnten Stimmen bringen. Mehr als 250 Familien sind immer noch auf der Suche nach ihren Vätern und Söhnen und im Unklaren darüber, ob diese in Gefangenschaft oder längst tot sind. Nikol Paschinjan, bis zum vergangenen April Regierungschef, bietet sogar seinen eigenen Sohn im Tausch gegen einen Gefangenen an. Ob das verfängt, ist fraglich. Denn seit der Niederlage Armeniens im Krieg gegen Aserbaidschan im vergangenen Herbst ist Paschinjan für viele Armenier*innen zum Verräter schlechthin geworden.
Nikol Paschinjan, vom Held zum Verräter
Erst drei Jahre ist es her, dass Panschinjan, der für die Opposition im Parlament sitzt, im ganzen Land enthusiastisch als Held gefeiert wurde. Als im Frühjahr Hunderttausende wochenlang gegen die korrupte Machtelite auf die Straße gehen, schlägt seine Stunde: Kurzerhand setzt sich Paschinjan an die Spitze der Bewegung, die er „Mein Schritt“ nennt. Der Name ist Programm: 14 Tage lang läuft er durch den Norden Armeniens. Auf seinem Weg bis in die Hauptstadt Jerewan kommen er und seine Anhänger*innen, die immer mehr werden, auch durch Jajur. Dort schlagen sie in der Nähe eines Feldes ihre Zelte auf.
Seine Aktion können die Armenier*innen quasi live auf Facebook mitverfolgen. „25.293 Schritte haben wir schon für die Revolution gemacht“, postet er einmal. Gemeint ist die sogenannte Samtene Revolution, die zum Sturz der Regierung führt und Paschinjan schließlich an die Macht bringt. Revolution? Martirosjan in ihrem Container im Dorf Jajur hat schon damals nicht daran geglaubt, und heute tut sie das erst recht nicht. Die Frage, ob sich für sie etwas zum Besseren verändert habe, quittiert sie mit Schweigen. Doch der traurige Ausdruck ihres von tiefen Falten zerfurchten Gesichts sagt alles.
Und doch: Allen Unzufriedenheiten, Enttäuschungen und Anfeindungen zum Trotz will Nikol Paschinjan mit Unterstützung seiner Partei „Zivilvertrag“ erneut Premierminister werden. Ob im Fernsehen oder auf den Kanälen der sozialen Medien – die Auftritte Paschinjans laufen dieser Tage in einer Dauerschleife. Er schreit sich die Kehle aus dem Hals – so laut, dass die Menschen in seiner Nähe Gefahr laufen, einen Hörsturz zu erleiden. Mit seinen emotionalen Ausbrüchen will er seine Ehrlichkeit, Männlichkeit und seine Entschlossenheit demonstrieren. „Euch werde ich es besorgen“, brüllt er – eine Botschaft an seine politischen Gegner, die keinen Zweifel daran lässt, dass er auf Rache sinnt.
Nikol Paschinjan ist wieder auf Tournee, auch im Norden des Landes. Anzug und Hemd hat er gegen Jeans und ein T-Shirt getauscht. Auf dem Kopf trägt er eine Baseballkappe. Haare und Bart hat er sich wachsen lassen – schon 2018 seine Markenzeichen. Es geht darum, bei den Menschen in der Provinz verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen – in ihn, der doch einer der Ihren ist.
„Trink, mein Guter, trink!“, rufen Männer und schenken ihm Kognak ein. Sie lassen ihn nicht gehen, solange er sein Glas mit dem armenischen „Nationalgetränk“ nicht geleert hat. In einem anderen Dorf küsst er Kinder, die immer wieder rufen: „Nikol, Nikol, Premierminister!“
Frisch ausgehobene Gräber
An der Strecke von Jajur nach Gjumri liegen mehrere kleine Dörfer. Und ein Friedhof, der sich an dem breiten Hang eines Berges entlangzieht und kein Ende zu nehmen scheint. Grabsteine aus Basalt, in allen erdenklichen Formen, mal liegend, mal stehend. Die Größe der einzelnen Grabstellen gibt Auskunft über den sozialen Status des oder der Verstorbenen. Und immer wieder finden sich hier die für Armenien so typischen Kreuzsteine – jeder für sich ein kleines, ganz individuelles Kunstwerk.
Einige Dutzend Gräber, gerade erst ausgehoben, erstrecken sich bis zur Einmündung der Straße. Blumenkränze, so weit das Auge reicht. Jeder Hügel ist mit dem gerahmten Bild eines jungen Soldaten geschmückt. In allen Gräbern stecken meterhohe Säulen, an deren Spitzen rot-blau-orange armenische Fahnen flattern. Männer, Frauen und Kinder zünden Weihrauch für ihre Brüder und Söhne an, die im jüngsten Krieg um die Region Bergkarabach gefallen sind.
„Hier hätten wir auch ein Loch für Nikol Paschinjan graben sollen“, sagt ein Mann mit Verbitterung in der Stimme und zerreibt den groben Weihrauch zwischen seinen Fingern. Zorn blitzt in seinen Augen auf, seine Bewegungen sind hektisch und aggressiv. Immer wieder halten Autos auf der Straße vor dem Friedhof an.
Gjumri, einst nach dem Revolutionsführer Lenin Leninakan genannt, hat etwa 120.000 Einwohner. Hier sind 5.000 russische Soldaten stationiert – Russlands einzige Militärbasis im Südkaukasus. Das Zusammenleben mit der einheimischen Bevölkerung ist nicht konfliktfrei. 2015 verlässt ein 20-jähriger russischer Soldat nachts unbemerkt die Kaserne und dringt in das Haus einer armenischen Familie ein. Er schießt wahllos um sich und tötet sechs Menschen. Das jüngste Kind, ein zweijähriger Junge, erliegt kurz darauf seinen schweren Verletzungen. Als sein offener Sarg durch die Straßen getragen wird, kommt es zu spontanen Protestkundgebungen. Es dauert mehrere Tage, bis sich die Lage wieder beruhigt.
Trotzdem haben sich Bewohner*innen ihren Humor bewahrt. Gjumri ist die Stadt der Anekdoten und hat viele Komiker hervorgebracht. Ein besonderer Dialekt, der nur hier gesprochen wird, sorgt regelmäßig für Heiterkeit und Spott in anderen Teilen des Landes. Viele der bekanntesten armenischen Dichter und Musiker stammen ebenfalls aus Gjumri.
Albert Vardanjan, der Künstler
Am Stadtrand, in der kleinen Ortschaft Akhurjan, wohnt Albert Vardanjan, einer der renommiertesten Künstler des Landes. Unter seinen Händen entstehen aus Bronze Meisterwerke der Kunst. Das Haus, in dem der 67-jährige Bildhauer mit seiner Frau, den beiden Söhnen, die auch Künstler sind, sowie einer Schwiegertochter lebt und arbeitet, hat er selbst gebaut.
Vardanjan kommt langsam die Treppe hinunter. Er wirft einen Blick durch das Fenster in den Hof des Gartens, wo Aprikosenbäume kurz vor der Ernte stehen. Dann nimmt er in einem Sessel Platz. Vardanjan trägt ein kariertes Hemd. Sein grauer Vollbart wirkt ungepflegt. Er habe seit Neuestem ein Zittern seiner linken Hand bemerkt, aber das vergehe bestimmt bald wieder. „Ist wohl vom Stress“, sagt er. Er ist gerade aufgewacht, seine Frau kocht ihm Kaffee.
„So viele Jahre suchen wir schon nach Gerechtigkeit. Wo ist das Licht der Erlösung?“
Vardanjan spricht langsam. Er macht sich viele Sorgen um die Heimat. „So viele Jahre suchen wir schon nach Gerechtigkeit, aber wir finden sie nicht“, sagt er und macht eine lange Pause. „Wo ist das Licht der Erlösung, welches ist der Weg, der aus dieser schwierigen Situation herausführt?“, fragt er.
Vardanjan geht zu der Tür, hinter der sich seine Werkstatt befindet. Dann betritt er sein Reich und versucht ein kleines, aber schweres Modell zu bewegen. Sein jüngerer Sohn hilft ihm dabei, er schweigt, wenn der Vater spricht. Das Modell ist aus Ton gefertigt und einen halben Meter hoch. An der rechten Seite ist spezielles Material angebracht, in dem sich die Gesichter der Betrachter*innen spiegeln. Die linke Seite versinnbildlicht Gewalt. Es sieht wie ein Blitzlichtgewitter aus – mit Spuren von Gittern, Schwertern, Autos und Panzern.
Ein politisches Kunstwerk, sagt Vardanjan. Es symbolisiere einen „Zusammenstoß der Kräfte“ und sei den Ereignissen am 1. März 2008 gewidmet. Nach der Präsidentschaftswahl an diesem Tag gehen Tausende gegen angebliche Fälschungen auf die Straße. Der scheidende Präsident Robert Kotscharjan lässt die Proteste von Sicherheitskräften brutal niederschlagen. Zehn Menschen kommen ums Leben und Kocharjan Jahre später, nach einer entsprechenden Anklage, in Untersuchungshaft. Paschinjan, der damals die Demonstranten anführt, wird ein versuchter Umsturz der verfassungsmäßigen Ordnung in Armenien vorgeworfen. Er kommt für zwei Jahre in Haft.
Vardanjan schließt nicht aus, dass es auch nach der Wahl am 20. Juni wieder zu bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen kommen könnte. „Denn wieder stehen sich dieselben Politiker gegenüber. Und ihnen geht es einzig und allein um ihre persönliche Macht“, sagt er. Damit ist auch Robert Kotscharjan gemeint. Er tritt als Spitzenkandidat des Bündnisses „Armenien“ an. Und Kotscharjan macht kein Hehl daraus, dass er mit seinen Widersachern, allen voran Paschinjan, abrechnen will.
Für seine politische Installation – fünf Meter breit und drei Meter hoch – hat Vardanjan bereits einen Platz gefunden: In Jerewan, am Rand eines Parks unweit des zentralen Republikplatzes. Doch seine Arbeit kommt nicht voran, denn die Finanzierung, die er bei einer Ausschreibung der Hauptstadt gewonnen hat, bleibt aus. Vardanjan hat dafür Verständnis. „Der Staat hat große Ausgaben. Das sind all die Verluste, die der Krieg um Bergkarabach mit sich bringt“, sagt er.
Er wird am Sonntag trotzdem wählen gehen und er hat seine Entscheidung bereits getroffen: Für Paschinjan. „Ich glaube immer noch daran, dass ein Generationswechsel möglich ist. Die alte Garde wurde gestürzt, und diese schlechten Zeiten dürfen nicht zurückkommen“, sagt er. Falls doch, kann er sich sicher sein: Sein Kunstwerk, als ein Appell gegen Gewalt, wird seine Werkstatt so bald nicht verlassen.