50.000 Tote in Armenien

■ Erdbeben verwüstet Armenien / Spitak liegt in Trümmern / Gorbatschow unterbrach seine USA-Reise / Unklarheit über nahegelegenes Atomzentrum

Moskau/Berlin (afp/dpa/ap/taz) - Ein Erdbeben in der Sowjetrepublik Armenien hat am Mittwoch morgen um 10.41 Uhr Ortszeit (8.41 MEZ) nach ersten Angaben über 50.000 Menschen das Leben gekostet. Die 16.000 Einwohner zählende Kreisstadt Spitak im Nordwesten der Republik liegt völlig in Trümmern. „Die ganze Stadt ist zerstört - die Krankenhäuser und die Schulen und die Fabriken. Alle Wohnhäuser sind zerstört. Dort ist nichts mehr übrig“, berichtete Nora Milikjan, Redakteurin der Nachrichtenagentur 'Armenpress‘ telefonisch nach Moskau. Ebenfalls schwer betroffen sind Leninakan und Kirowakan, mit 170.000 und 120.000 Einwohnern zweit- und drittgrößte Städte der Republik.

Die in Moskau erscheinende 'Konsomolskaja Prawda‘ publizierte am Donnerstag eine Reportage ihres Korrespondenten, der sechs Stunden nach dem Erdbeben in Leninakan, das nahe der türkischen Grenze liegt und zu 40 Prozent zerstört ist, eingetroffen war: „Die Stadt bietet ein tragisches Bild. Zerstört wurden praktisch alle Häuser, die neun Stockwerke oder höher sind. Auch fünfstöckige Häuser sind stark beschädigt. Nur Einfamilienhäuser stehen noch. Mehrere Schulen sind während des Unterrichts eingestürzt.“ Weiter berichtet die Zeitung, daß Soldaten und zivile Helfer aus den Trümmern einer Schule über 50 tote Kinder bargen. Einige Kinder seien gerettet worden. Der Feuerwehr gelang es dem Bericht zufolge, Brände in einem Öltanker, einem Ferienzentrum, einem Hotel und einer Textilfabrik zu löschen. „Die Stadt steht unter Schock“, berichtet der Korrespondent, „überall brennen Lagerfeuer, um die sich die Bevölkerung versammelt. Überall weinende Menschen. Viele suchen in den Trümmern nach ihrer Habe.“ Die Wasser- und die Elektrizitätsversorgung sowie das Fernmeldesystem seien völlig zusammengebrochen.

Etwa zehn Prozent der armenischen Industrie sind nach Angaben von 'Armenpress‘ zerstört. „Nach einer ersten Auswertung sind dem Erdbeben Zehntausende Menschen zum Opfer gefallen“, schreibt die 'Konsomolskaja Prawda‘. Der sowjetische Gesundheitsminister Jewgeni Tschasow sprach am Donnerstag von über 50.000 Toten.

Das Erdbeben war auch in der armenischen Hauptstadt Eriwan deutlich zu spüren. Aus der grenznahen türkischen Stadt Akyaka wurden vier Todesopfer gemeldet. Wie die Nachrichtenagentur 'Tass‘ meldete, ist eine vom sowjetischen Ministerpräsidenten Nikolaj Ryschkow geleitete Kommission des Politbüros der KPdSU aus Moskau in die armenische Hauptstadt Eriwan abgereist, um die Hilfsaktionen zu koordinieren. Ihr gehören die beiden stellvertretenden Ministerpräsidenten Juri Batalin und Lew Worontin, Verteidigungsminister Dmitri Jasow und ZK-Sekretär Nikolaj Sljunkow an.

Staats- und Parteichef Gorbatschow hat seine US-Reise unterbrochen und kehrte noch am Donnerstag nach Moskau zurück, um nach Eriwan weiterzureisen. In Armenien sind bereits auch erste Hilfstrupps aus den Nachbarrepubliken Aserbeidjan und Georgien eingetroffen. Zahlreiche Lastwagen mit Medikamenten, Blutplasma, Zelten und Kleidern wurden ins Katastrophengebiet gesandt. Aus Moskau und Leningrad wurden Hunderte von Ärzten und medizinischen Fachkräften eingeflogen. Doch erschweren offenbar zahlreiche zerstörte Brücken und unpassierbare Straßen die Hilfsarbeiten. Das Deutsche Rote Kreuz (DRK) hat inzwischen seiner sowjetischen Schwesterorganisation Hilfe angeboten. Eine Suchhundestaffel stehe auf Abruf bereit. Außerdem könnten 20.000 Wolldecken und 1.00 Zelze geliefert werden. Aus seinem Katastrophenfonds stellte das DRK nach eigenen Angaben einen Betrag von 200.000 Mark zur Verfügung.

Das Erdbeben erreichte eine Stärke von 6,7 bis 6,9 auf der Richter-Skala. Helmut Aichele, Leiter des Seismologischen Zentralobservatoriums in Erlangen, meinte, ein Erdbeben dieser Stärke sei im Kaukasus, wo kleinere Beben häufig stattfinden, äußerst ungewöhnlich. Das letzte Mal habe 1902 ein solches Beben die Gegend erschüttert.

Das armenische Atomzentrum von Oktemberjan, das etwa 80 Kilometer südlich des Epizentrums des Bebens und etwa 50 Kilometer westlich von Eriwan liegt, ist nach Angaben des Sprechers des sowjetischen Außenministeriums, Wadim Perfiljew, vom Erdbeben verschont geblieben. Die beiden Druckwasserreaktoren seien „völlig in Ordnung“, erklärte auf Nachfrage auch ein Sprecher der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) in Wien, der sich auf Meldungen aus Moskau berief. Eine offizielle Bestätigung liege allerdings noch nicht vor. Im Gegensatz zu den westlichen Reaktoren sind die sowjetischen AKWs der 440-MW-Klasse aus Kostengründen nicht mit einem Reaktorsicherheitsbehälter (Containment) ausgestattet, der bei schweren Schäden einen gewissen Schutz darstellt. Bereits 1982 wiesen Jens Scheer und Werner Heuler in einer Veröffentlichung der Universität Bremen darauf hin, daß die „Anlage von Oktemberjan in einem Gebiet erhöhter Erdbebentätigkeit errichtet“ wurde.

thos/gero